Rezension

Zwischen Grauen und Faszination - ein Horrormärchen

Lapvona -

Lapvona
von Ottessa Moshfegh

Bewertet mit 4 Sternen

Grauenhaft, abstoßend, verstörend – all das trifft auf „Lapvona“ zu. Aber genau deswegen ist Ottessa Moshfeghs Roman auch so faszinierend und übt einen ganz speziellen Zog auf die Leser aus. Sicherlich polarisiert das Werk und wird aufgrund seiner Rigorosität sowohl Abscheu als auch auf Gefallen hervorrufen. Ich kann nach der Lektüre beide Positionen nachvollziehen, doch mich persönlich hat „Lapvona“ in den Bann geschlagen.
Ottessa Moshfegh lässt ihren Roman in einer morbiden Märchenwelt spielen. Viele Motive aus den klassischen Märchen der Brüder Grimm sind erkennbar und werden von der Autorin auf beklemmende Weise adaptiert. Fast alle Charaktere sind moralisch oder körperlich entstellt, sie handeln auf kaum nachvollziehbare, unmenschliche Weise und müssen sich in einer barbarischen Welt zurechtfinden. Beherrscht wird Lapvona vom Tyrannen Villiam, der als Herrscher kaum zurechnungsfähig zu sein scheint, da sein Verhalten zwischen kindlich-naiv und kaltblütig schwankt. Während sein Volk Hunger leidet, lebt er abgeschieden im Überfluss auf seinem Schloss und erfreut sich auf naive Art am Leid anderer. Hier lässt sich meiner Meinung nach das Anliegen der Autorin erkennen, durch die bizarre Welt Lapvonas unserer Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und die Leser zum Nachdenken über Missstände in der Realität anzuregen.
Ein weiteres Motiv, das sich durch die Märchenwelt Lapvona zieht und dessen Bedeutung sich auf unsere Welt übertragen lässt, ist die Religion. Der Klerus in Lapvona handelt heuchlerisch und zeigt sich alles andere als fromm und selbst die Charaktere aus dem Volk, denen die Religion wichtiger ist, legen einen nahezu manischen religiösen Eifer an den Tag, der mit den Grundsätzen des Christentums wenig gemein zu haben scheint. Der Glaube steht bei ihnen durch Selbstkasteiung und andere Leidensprüfungen in enger Verbindung zum Schmerz, dem sie sich masochistisch ausliefern.
All das wirkt auf mich als Leser schon sehr befremdlich und oft abstoßend, doch die Grausamkeit steigert sich in noch drastischeren Szenen, wenn es beispielsweise zum Kannibalismus kommt. Moshfegh schildert diese Brutalität so schockierend plausibel, dass einem die Bilder unmittelbar vor Augen geführt werden und man selbst das bizarrste Verhalten für nachvollziehbar hält. So sehr Lapvona auch ins Märchenhafte verfremdet ist, so erschreckend ist es doch, wie nahbar alles durch den eindringlichen, bildhaften Sprachstil der Autorin wirkt.
Mein größter Kritikpunkt ist allerdings, dass bis zum Schluss einige Fragen für mich nicht geklärt worden sind und einiges (besonders im Hinblick auf den Charakter Ina) schleierhaft geblieben ist. Zwar ist man bei der Lektüre beständig dazu angehalten, sich den Sinn selbst zu erschließen und Motive zu erkennen, doch trotz aller Interpretationsanstrengungen hat mich das Ende teilweise etwas ratlos zurückgelassen. Aber vielleicht ist es auch gar nicht das Anliegen der Autorin, der Welt in Lapvona einen abschließenden Sinn zu geben? Vielleicht will sie uns vielmehr darauf hinweisen, dass kein endgültiger Sinn im Leben und in der Welt gefunden werden kann? Diese Fragen muss wohl jeder Leser für sich selbst klären…
Für mich war ein Satz aus dem Roman sehr bezeichnend für das ganze Werk: „Die Welt ist grausam und schön zugleich.“ Genauso verhält es sich auch mit diesem Roman. Zwar ist er stellenweise richtiggehend abstoßend und ekelerregend, sodass mir beim Lesen schlecht geworden ist, aber ebenso ist es diese Faszination des Grauens, die die Lektüre und den Roman zu einem unvergleichlichen Erlebnis machen.