Rezension

Zwischen viktorianischem Schauerroman und historischem Krimi

Die Ewigkeit in einem Glas - Jess Kidd

Die Ewigkeit in einem Glas
von Jess Kidd

Bewertet mit 5 Sternen

Die ehemalige Straßengöre Bridie/Bridget Devine arbeitet im  viktorianischen London als Privatermittlerin und trägt die für eine Witwe vorgeschriebenen Kleidung. Die damaligen Sitten sehen berufstätige oder gebildete Frauen zwar ungern, aber Bridie muss als Witwe schlicht ihren Lebensunterhalt verdienen. Obwohl sie wiederholt versichert, dass sie nicht an Geister glaubt, ist sie sie in Londons Gassen und Hinterhöfen mit ihrem fiktiven Begleiter Ruby Doyle unterwegs, dem Geist eines legendären verstorbenen Boxers mit ausdrucksvollem Oberkörper-Tattoo. Andere Menschen können Ruby nicht sehen, wie er Bridie begleitet und beschützt, sie erleben nur eine dralle, rothaarige Person, die angeregt Gespräche mit einem Unsichtbaren führt. Ruby jedoch sieht Dinge, die anderen verborgen bleiben. Bridies  aktueller Auftrag ist im Jahr 1863 die Suche nach der entführten Tochter eines britischen Adligen, die von ihrer Familie in einer Villa „wie eine Mischung aus Kriegsschiff und Hochzeitstorte“ sorgsam vor der Öffentlichkeit verborgen wurde. Das Schicksal der verschwundenen Christabel führt Bridget in die Welt der Varietes, wandernden Menagerien  und Kuriositätensammlungen, wo missgebildete Wesen konserviert in Glasbehältern ausgestellt werden und einen hohen Handelswert haben. Bridies Recherche konfrontiert sie damit, dass nicht alle Ärzte es mit dem  hippokratischen Eid halten und dass ihr Interesse an Medizin und Obduktionen eine kleine rundliche Witwe in große Gefahr bringen kann …

Rückblicke in Bridies Kindheit in den 40ern des 19. Jahrhunderts erzählen von einem Straßenkind, das von einem Arzt und Anatomen gefördert wurde, der sich vermutlich ungern damit abfinden wollte, dass ein so kluger Geist als Frau nicht zum Medizinstudium zugelassen ist und ihm nur heimlich assistieren darf. Erkannt wurde Bridies Intelligenz und gesunder Menschenverstand von ihrem ersten Boss, der Leichen aus der Themse fischte und für  Sektionen verkaufte. Arme Menschen, deren Beisetzung niemand bezahlen konnte, interessierten damals niemanden.

In Jess Kidds Romanen aus der Zeit der Kutschen und Gaslampen – mitten zwischen viktorianischen Schauerroman, historischen Krimi und die Fantastik geworfen - muss man sich als Leser damit abfinden, dass die Welt des Übersinnlichen existiert. Wer würde sich im Zeitalter gestreamter Serien auch darüber wundern, dass die auf Rubys breiten Brustkasten tätowierten Figuren ein filmreifes Eigenleben führen?

Als gewitzte, detailverliebte  Erzählerin lässt Jess Kidd ihre Leser die Welt mit Bridies exzellenter Beobachtungsgabe wahrnehmen, ein Talent, dass mich tagelang in dieser skurrilen Welt versinken ließ. Bridie wirkt zwar äußerlich fest ins Korsett des Witwenstandes gezwängt, zeigt sich als Pionierin der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik jedoch als hinreißende Person. Wer sie unterschätzt, darf meinetwegen gern gehörig auf die Nase fallen oder eins übergezogen bekommen. Auf zwei Zeitebenen (1863 und 1841) entfaltet sich hier eine skurrile Geschichte über Lebewesen in Glasgefäßen, Aberglauben, Straßenkinder, Einwanderer aus Irland, soziale Vaterschaft, die Verhinderung des Frauenstudiums – und das viktorianische England.