Rezension

Zwischen zwei Welten

Die Eismacher
von Ernest van der Kwast

Bewertet mit 4.5 Sternen

»Enrico erzählte von der Herstellung, von den verschiedenen Schritten. Eine Art Alchemie. Wie der gefrorene Schnee mit einem kleinen Hammer zerbröckelt und in eine Holztonne geschüttet wird, rings um einen Metallzylinder, wobei man Salz hinzugibt, um den Schmelzpunkt abzusenken. Wie der Brei, aus dem das Speiseeis werden soll, in den Zylinder der mechanischen Eismaschine gegossen wird. Wie der Eismacher schließlich die Kurbel zu drehen beginnt und das Rührwerk die Masse zur kalten Zylinderwand befördert und wieder abstreift. Drehen, drehen, drehen. Wie sich am Rand das erste Eis bildet, noch spröde. Wie Luftbläschen in die Masse gelangen und wie sie an Umfang zunimmt. Rosa Erdbeereis, graugrünes Pistazieneis, zimtfarbenes Schokoladeneis. Drehen. Bis es fest und dick und köstlich ist.«

Fasziniert lauscht Giuseppe Talamini den Worten Enricos. Es ist das Jahr 1891, Giuseppe ist noch ein Junge und arbeitet zusammen mit den Männern von Venas di Cadore, einem kleinen Ort in den Dolomiten, bei der Schneeernte. Eine harte Arbeit, große Brocken aus dem Schnee zu hacken und Waggons damit zu beladen und dass man aus diesem Schnee etwas machen kann, was der Beschreibung nach eine wahre Köstlichkeit ist, ist kaum zu glauben. Trotzdem verliert er sogleich sein Herz an diesen Gedanken: Er will ein Eismacher werden! Und entgegen aller Widerstände, aller Klagen seiner Familie, dass er den Verstand verloren hätte und sich eine ordentliche Arbeit suchen solle, erreicht er sein Ziel, verwirklicht seinen Traum.

Mehr als hundert Jahre später sind ihm weitere Generationen von Eismachern gefolgt. Sein Sohn übernahm das Eiscafé von ihm, danach dessen Sohn und nun wäre die Reihe an Giovanni Talamini, doch dessen große Liebe gilt nicht dem Eis, sondern der Literatur…

 

Dies ist ein Buch, in dem man sich beim Lesen verlieren kann. So schön ist die Geschichte, die es erzählt. Eine Geschichte, die malerische Landschaften zeigt, Speiseeis in einer solchen Vielfalt und Präzision beschreibt, dass man beständig Appetit bekommt und dazwischen über Lyrik schwärmt.

Aber es ist auch eine Geschichte, die nicht ohne Dramatik ist. Denn zwischen Urgroßvater und Urenkel liegen weitere Generationen, die sich in ihr Schicksal fügten, ihre eigenen Wünsche ignorierend. Auch Giovannis Vater tat seine Pflicht, obwohl er sich ein anderes Leben gewünscht hätte. Bezeichnend seine Anklage:

»Ich habe siebenundfünfzig Jahre lang keinen Sommer gehabt.«

Sommer, die Zeit, die für einen Eismacher acht Monate pausenloses Schuften bedeutet. Giovannis Bruder Luca folgt der Tradition und arbeitet täglich im Eiscafé. Gefangen in ihren eigenen Zwängen überziehen die beiden Giovanni mit Vorwürfen.

 

So detailliert, wie das Leben der Eismacher beschrieben wird, wird auch das Leben Giovannis beschrieben, der in einem Verlag arbeitet, dort die Lyriker betreut und für die Organisation von Festivals um die ganze Welt reist. Ein Leben, das ihn glücklich macht und das er sich trotzdem nie gestattet, aus vollem Herzen zu genießen.

 

Bei allem Anspruch sind die Texte manchmal herrlich amüsant, schon die Überschriften der Kapitel treffen einerseits den Punkt und lassen andererseits den Humor des Autors erkennen. Beispiel? Gleich das erste Kapitel trägt den Titel »Wie mein Vater sein Herz an eine 83 Kilo schwere Hammerwerferin verlor«. Mich hatte das Buch bereits auf dieser ersten Seite gepackt.

 

So verfolgt man die Lebensgeschichte Giovannis, beginnend mit einem ausführlichen Rückblick auf das Leben seines Urgroßvaters und eins ist dabei schnell klar: Der Begründer der Eismacher-Familientradition war genauso wie sein Urenkel seinem eigenen Traum gefolgt. Aber vermutlich konnte er nach Erreichen seines Ziels einfach nur glücklich sein, Giovanni lebt in ständigem Konflikt, auch mit sich selbst, er wird zum Wandler zwischen zwei Welten.

 

Der Stil ist wunderbar leicht zu lesen und man bleibt gerne dran. Allerdings: Die Kapitel, die sich mit der Lyrik und Giovannis Verlagsarbeit befassten, waren mir an einigen Stellen etwas zu ausführlich. Es mag daran liegen, dass Lyrik nicht so meins ist. Jedenfalls merkte ich bei einigen Abschnitten, dass es mich doch danach verlangte, wieder ins Eiscafé zu kommen ;-) Wer Lyrik mag, wird sich über die Liste der zitierten Gedichte im Anhang freuen, erleichtern sie doch die Zuordnung der diversen Zitate sehr.

 

Fazit: Eine große Geschichte, sehr schön und eindringlich erzählt.

 

»Eng und klein / Das Herz, das Einem nur mag Liebe weihn, / Das Hirn, in dem nur Ein Gedanke brennt, / Das Leben, das nur Einen Zweck erkennt, / Der Geist, der Eins nur schafft, und wahndurchgraut / Ein Grabmal seiner Ewigkeit erbaut!« (Percy Bysshe Shelley)