Rezension

Zwölf Jahre und ein Mörder

Drei Tage und ein Leben
von Pierre Lemaitre

Bewertet mit 4 Sternen

»Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder. Doch die beiden Bilder passen nicht zusammen, man kann nicht zwölf Jahre alt und ein Mörder sein.«
Es ist tatsächlich eine unglaubliche Geschichte, die Pierre Lemaitre uns hier erzählt. Er knüpft dabei an seine Kriminalromane und Thriller an, die er vor seinem großen Erfolg mit dem Prix Goncourt gekrönten Roman „Wir sehen uns dort oben“ veröffentlicht hat. (Dieser wird allerdings fortgesetzt; geplant ist eine Trilogie). 
Der Mörder steht dabei allerdings von Anfang an fest, auch die Tat wird bereits auf den ersten Seiten geschildert. Sie ist es, die so fassungslos macht. Ein zwölfjähriger, ruhiger, eher in sich gekehrter Junge tötet in einem Moment der rasenden Wut einen kleinen sechsjährigen Nachbarsjungen. Dessen Vater hat seinen von Antoine sehr geliebten Hund, nachdem er von einem Auto angefahren wurde, erschossen. Nicht, um das Tier von seinem Leiden zu erlösen, so schwer verletzt war es wohl gar nicht, sondern schlicht um die Tierarztkosten zu sparen. Die Sitten sind rau in der Provinz, „jener waldreichen Gegend, in der das Leben langsamen Rhythmen folgt“. Für Antoine aber ist der Tod seines vierbeinigen Freundes ein schrecklicher Verlust, gerade weil seine Eltern niemals ein Haustier erlaubt hatten und er auch kaum Freunde hat.
Er wollte den kleinen Rémi nicht töten, nicht einmal wehtun wollte er ihm. Aber da waren dieser Stock und diese unglaubliche Wut auf dessen Vater und dieser furchtbare Schmerz. Von Panik ergriffen versteckt Antoine die Leiche in einer natürlichen Erdhöhle im Wald. Dabei geht er mit einer verblüffenden Entschlossenheit zu Werk. Geschuldet der Angst vor Entdeckung, aber auch vor dem Kummer, den seine Tat und die daraus entstehenden Konsequenzen bei seiner alleinerziehenden Mutter auslösen würden. Zuviel Traurigkeit ist da schon, seitdem der Vater vor sechs Jahren nach Deutschland ging und dort eine neue Familie gründete.
Pierre Lemaitre schafft es, die Gewissenskonflikte und Ängste, die Antoine umtreiben deutlich und psychologisch schlüssig zu schildern. Er nimmt den Jungen nie in Schutz, entschuldigt nicht, macht aber auch seine Verzweiflung, seine Zerrissenheit zwischen verbergen und gestehen wollen deutlich, seine Reue, seine Fassungslosigkeit und seine Ratlosigkeit. Was soll er tun? Schweigen? Fortlaufen? Sich selbst töten? Wie würde seine Mutter reagieren? Wie die Gemeinde?
Beauval ist eine Provinzstadt. Jeder kennt hier jeden. Animositäten gedeihen und der Klatsch. Die Bewohner stehen aber auch füreinander ein, eine groß angelegte Suchaktion wird gestartet. Es ist der Vortag des Heiligen Abend 1999. Trotzdem durchkämmen Hunderte die Wälder und Wiesen. Die Polizei schickt Hunde und Hubschrauber. Antoine fürchtet jeden Moment die Entdeckung.
Da kommt ihm der Jahrhundertsturm „Lothar“ zu Hilfe. Jener Sturm, der Weihnachten 1999 vor allem in Frankreich, der Schweiz, aber auch in Süddeutschland und Österreich enorme Schäden angerichtet hat. Das Waldstück, in dem der kleine Rémi begraben liegt, wird völlig zerstört und unpassierbar. 
Der Roman schildert die Hochs und Tiefs in Antoines seelischer Verfassung sehr anschaulich und überzeugend, sein Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Er ist sehr nah dran an Antoine und die Leserin empfindet tatsächlich Empathie für den Mörder, bangt mit ihm, hofft darauf, dass er nicht entdeckt wird. Auch wenn sie angesichts der Tat und vor allem der Grausamkeit, die in ihrem Verbergen vor allem auch für die verzweifelten Eltern liegt, fassungslos ist. Das ist äußerst spannend und gut gemacht. 
Aber der Roman endet hier nicht. Zwölf Jahre nach dem für die Öffentlichkeit spurlosen Verschwinden des kleinen Jungen und den Konsequenzen, die dies nach sich zog, soll auf dem einst brachliegenden Gelände ein Freizeitpark entstehen. Antoine, der den Ort so bald wie möglich verlassen und Medizin studiert hat und seine Mutter nur selten besucht, ist erneut tief erschüttert. Das Buch nimmt hier eine Wendung, die hier nicht näher verraten werden soll und bis ins Jahr 2015 führt. Diese beiden neueren Abschnitte haben mich nicht mehr so überzeugt, vor allem ist jede Empathie für den erwachsenen Antoine verschwunden. Das Ende enttäuscht.
So hinterlässt „Drei Tage und ein Leben“ einen zwiespältigen Eindruck mit einem starken, aufwühlenden Beginn und einem eher schwachen Ende. Es bleibt, sich auf die Trilogie rund um „Wir sehen uns dort oben“ zu freuen. Der zweite Band "Couleur de l'incendie" wird am 3. Januar 2018 in Frankreich erscheinen.