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Die Illusion wertfreier Ökonomie - Tanja von Egan-Krieger

Die Illusion wertfreier Ökonomie

von Tanja von Egan-Krieger

Im November 2011 machte eine Meldung die Runde, die sicherlich bei einigen Ökonomen für Befremden sorgte: Siebzig Studenten der Harvard Universität haben aus Protest den Einführungskurs in Ökonomik verlassen, den jährlich ca. 700 Studenten besuchen. Als Grund dafür gaben sie an, mit der "konservativen Voreingenommenheit" des Kurses unzufrieden zu sein. Die gleiche "konservative Ideologie" sei es auch, die in die Finanzkrise geführt habe, und deshalb verließen sie in Solidarität mit der Occupy-Bewegung den Hörsaal (vgl. The Harvard Crimson 2011). Nach dem gängigen Verständnis der Wirtschaftswissenschaften muss diese Kritik fehl gehen. Denn danach erklärt die Mainstream-Ökonomik lediglich das "reale" Wirtschaftsgeschehen und hält sich mit Bewertungen desselben zurück. Wertvorstellungen - ob nun konservativ oder modern, rechts oder links - haben nach diesem Verständnis in den Wirtschaftswissenschaften nichts zu suchen. Und so antwortete Gregory Mankiw, der Professor, der den betreffenden Einführungskurs seit Jahren hält und der zudem Autor eines der meistverkauften Lehrbücher der Ökonomik ist, in der New York Times: "If my profession is slanted toward any particular world view, I am as guilty as anyone for perpetuating the problem. Yet, like most economists, I don't view the study of economics as laden with ideology." (The New York Times 2011) Doch wie kommen die Harvard-Studenten darauf, dass der ökonomischen Theorie, die sie im Einführungskurs beigebracht bekommen, eine spezifische Normativität zugrunde liegen würde, die auch der Politik der Konservativen in den USA eigen sei? Sehen wir uns ein Zitat aus einem Artikel von Mankiw an: "One implication of the Just Deserts Theory is that it gives a new normative interpretation of the equilibrium of a competitive market economy. Under a standard set of assumptions, a competitive economy leads to an efficient allocation of resources. But we economists often say that there is nothing particularly equitable about that equilibrium. Perhaps we are too hasty in reaching that judgment. After all, it is also a standard result that in a competitive equilibrium, the factors of production are paid the value of their marginal product. That is, each person's income reflects the value of what he contributed to society's production of goods and services. One might easily conclude that, under these idealized conditions, each person receives his just deserts." (Mankiw 2010: 295) Eine "wertfreie" Aussage? Schon einmal gab es in der Geschichte der Ökonomik eine Auseinandersetzung darüber, ob ökonomische Theorien Werte enthalten dürfen. Der sogenannte Werturteilsstreit, der im Jahre 1909 auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik in Wien begann, drehte sich um genau diese Frage: Müssen, dürfen, sollen ökonomische Theorien normative Gehalte beinhalten? Diese Frage wird heute nicht nur kraft der Kritik von Ökonomie-Studenten an der Standardökonomik wieder aktuell, sondern auch aufgrund der Entwicklung unterschiedlichster sogenannter heterodoxer ökonomischer Theorien, die sich aus der Kritik an der Standardökonomik (der orthodoxen Ökonomik) heraus entwickelt haben. So sind in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von heterodoxen ökonomischen Theorieschulen entstanden oder wieder erstarkt, die eigene Forschungsnetzwerke und Zeitschriften gegründet haben. Vielen heterodoxen Ökonomen ist bewusst, dass es auch unterschiedliche normative Ausgangspunkte sind, die sie zu einer Ablehnung der Standardökonomik führen. Die Auffassungen darüber, in welcher Weise normative Gehalte einen Einfluss auf die ökonomische Theoriebildung haben und was daraus für den Umgang mit ihnen folgt, gehen jedoch innerhalb der heterodoxen Ökonomik weit auseinander. Darüber hinaus sind gründliche Reflexionen über die Normativität ökonomischer Theorien selbst innerhalb der heterodoxen Ökonomik eher selten anzutreffen. Vordergründig geht es ihren Vertretern zumeist um die mangelnde "Erklärungskraft" der ökonomischen Standardtheorie, ihre unzureichenden "Methoden", sowie ihr mangelndes Interesse an den "wirklichen" Problemen. Zunächst ist daher zu klären, warum und in welcher Weise ökonomische Theorien auf normativen Gehalten beruhen. Diese Klärung geht mit einer Positionierung im wirtschaftsethischen Diskurs einher. Ich werde daher im ersten Kapitel eine wirtschaftsethische Position darlegen und begründen, die unter dem Begriff integrative Wirtschaftsethik bekannt geworden ist (Ulrich 2001). Die integrative Wirtschaftsethik geht davon aus, dass bei der Entwicklung ökonomischer Theorien zwangsweise normative Annahmen gemacht werden müssen, die dann als normative Gehalte Eingang in die jeweilige Theorie finden. Diese Normativität ist dabei schon in den verwendeten Begriffen mit positiven (und somit "wertfreien") Gehalten verschränkt, sodass die ökonomischen Theorien nicht in einen positiven, rein erklärenden und einen normativen, wertenden Teil getrennt werden können. Wirtschaftsethik ist damit nicht als eine angewandte Ethik im wortwörtlichen Sinne möglich, denn dies würde eine "ethikfreie" ökonomische Theorie voraussetzen, auf die wirtschaftsethische Überlegungen quasi von außen angewandt werden könnten. Aus dieser Perspektive ist die im anglo-amerikanischen Diskurs vorherrschende Unternehmensethik ("business ethics"), die auf die (ethische) Verantwortung von Unternehmen abstellt, nur ein Teil der umfassenden Wirtschaftsethik und somit in ihrer Verabsolutierung als Verkürzung zu beurteilen. Angesichts der gegenwärtigen Situation einer fehlenden Reflexion der Normativität ökonomischer Theorien ist es eine vordringliche Aufgabe einer so verstandenen Wirtschaftsethik, die normativen Grundlagen ökonomischer Theorien aufzudecken, sie zu rekonstruieren und zu kritisieren. Notwendigerweise muss eine solche Kritik aus einer eigenen philosophischen Position heraus geübt werden. Die in dieser Arbeit eingenommene Position ist die der Diskursethik, wie sie von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel begründet wurde (Habermas 1983, 1991; Apel 1988). Aufgabe einer Moraltheorie ist es laut Habermas, ein allgemeingültiges Moralprinzip zu formulieren, das eine unparteiische Beurteilung moralischer Fragen erlaubt. Handlungsnormen beziehungsweise -maximen werden prinzipiell als begründbar angenommen. Als moralischer Standpunkt, von dem aus eine solche unparteiische Beurteilung moralischer Fragen möglich ist, gilt der Diskurs, in dem nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments zählt. Mein spezifisches Verständnis der Diskursethik sowie ein kursorischer Begründungsversuch finden sich ebenfalls im ersten Kapitel dieser Arbeit. Die integrative Wirtschaftsethik hat sich bisher in erster Linie auf die Standardökonomik fokussiert. Relativ knapp wende ich mich daher im zweiten Kapitel der neoklassisch geprägten Standardökonomik zu. Die Neoklassik entstand zur Zeit der aufblühenden kapitalistischen Wirtschaften in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie verstand die Ökonomik als eine Naturwissenschaft und damit als eine allgemeine ökonomische Theorie ohne geschichtlichen Bezug. Sie versucht die Wirtschaft von den Individuen aus zu erklären. Diese Herangehensweise ging unter dem Begriff methodologischer Individualismus in die Diskussion ein. Sprachlich korrekt wäre es jedoch, vom methodischen Individualismus zu sprechen. Noch heute bildet die Neoklassik so etwas wie den Kern der Mainstream-Ökonomik und ist deswegen insbesondere in der Lehre der dominante Theorieansatz. Die reine Neoklassik hat jedoch eine Reihe von Erweiterungen erfahren und man machte es sich daher zu einfach, würde man bei der Kritik der reinen Neoklassik stehen bleiben. Von den Erweiterungen möchte ich hier drei untersuchen: die Haushaltsökonomik, die Neue Institutionelle Ökonomik und die Umweltökonomik. Diese drei Erweiterungen habe ich ausgewählt, weil sie sozusagen das jeweilige Pendant zu den heterodoxen Theorien darstellen, denen die drei Hauptkapitel dieser Arbeit gewidmet sind. Wird eine kritische Haltung der Normativität der Standardökonomik sowie der Verleugnung derselben gegenüber vorausgesetzt, wird ein kritischer Blick auf die heterodoxen Theorien notwendig. Auch wenn die heterodoxe Ökonomik heute noch ein Randdasein fristet, ging es mir auf der einen Seite darum - so könnte ich ein wenig wichtigtuerisch formulieren -, dem Diskurs "einen Schritt voraus" zu sein. Auf der anderen Seite könnte man auch fragen: Macht es die heterodoxe Ökonomik überhaupt besser als der Mainstream? Welches Reflexionsniveau herrscht bezüglich ihrer Normativität vor? Da es nicht die eine heterodoxe Ökonomik gibt, sondern eine Vielzahl an Theorieansätzen, musste eine Auswahl getroffen werden. Dabei bin ich zunächst einmal von der Intuition ausgegangen, dass dem jeweiligen heterodoxen Ansatz ein berechtigtes Unbehagen gegenüber der Standardökonomik zugrunde liegt. Die sogenannte Feministische Ökonomik beispielsweise kritisiert die Standardökonomik für ihre geschlechtsdiskriminierende Thematisierung unseres Wirtschaftens. Unter anderem wird kritisiert, dass das gängige Ökonomieverständnis allein die Marktökonomie in den Blick nimmt. Die sogenannte Versorgungsökonomie dagegen, beispielsweise die Leistungen im Haushalt, die vor allem von Frauen erbracht werden, gerät aus dem Blick und wird so potentiell abgewertet. Für den Handlungsbereich der Versorgungsökonomie, aber von hier aus auch für die Marktökonomie, entwickelt die Feministische Ökonomik ein Menschenbild in Anlehnung an die Fürsorgeethik aus der Feministischen Philosophie (siehe Kapitel 3). Die sogenannte Alte Institutionelle Ökonomik, die sich mit diesem Namen von der zum Mainstream gehörenden Neuen Institutionellen Ökonomik abgrenzen will, nimmt dagegen an dem methodischen Individualismus der Standardtheorie Anstoß. Ihre Kritik richtet sich gegen die Vorstellung, Menschen hätten von ihrem sozialen Kontext losgelöste, unveränderliche Präferenzen. Zusätzlich zum freien Willen der handelnden Personen wird vor allem dem Verhalten aus Gewohnheit Bedeutung beigemessen. Damit rücken auch Institutionen, die menschliches Zusammenleben regeln, in den Fokus der ökonomischen Theorie. Neben der Frage, wie diese das wirtschaftliche Geschehen beeinflussen, wird auch der Frage nach dem Wandel von Institutionen Interesse entgegengebracht. Zugrunde gelegt werden dabei Einsichten aus der pragmatistischen Philosophie, wie sie von Charles S. Peirce, William James und John Dewey begründet wurde (siehe Kapitel 4) (Peirce 1992; James 1908; Dewey 1932, 1938).

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
300 Seiten
ISBN:
9783593425269
Erschienen:
August 2014
Verlag:
Campus Verlag GmbH
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