Buch

Die anonymen Mystiker - Thomas R. P. Mielke

Die anonymen Mystiker

von Thomas R. P. Mielke

Das Sirren zitterte kaum hörbar durch das glasige Hellblau des Himmels über Glasgow. Es hörte sich an, als würde jemand mit dem angefeuchteten Finger über den Rand eines dünnen Weinglases streichen. Mehr als eine halbe Million Menschen in der schottischen Metropole reagierte auf das Sirren. Viele bekreuzigten sich. Andere verharrten mitten in der Bewegung und blickten angstvoll auf. Wieder andere schlugen zwei Finger übereinander und murmelten halblaut rhythmische Verse. Etwas Außergewöhnliches geschah. Als das Sirren begann, veränderte sich etwas in der unmittelbaren Umgebung der alten Universität auf dem Hügel mitten in der Stadt. Die Luft nahm eine andere Farbe an, und alle Geräusche schienen durch ein dickes Wattepolster zu kommen. Selbst die beiden Scheinwerfer in den Augenhöhlen des großen Drachenkopfes über dem Eingangstor der Uni verloren plötzlich an Leuchtkraft. Andy Bennet spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Für einen Augenblick wagte er nicht zu atmen. Eingekeilt in die Menge der Vorwärtsdrängenden, kam er nicht weiter. Er hatte die Hand bereits am Magnogie-Regler, der die Gurte vor seiner Brust zusammenhielt. Behutsam preßte er die Kontaktplatte gegen seinen Körper. Er spürte, wie die Stahldorne aus seinen Stiefelsohlen in den Boden aus Kupferplast eindrangen. Der Kokon aus straffen Gurten spannte sich enger um seinen schlanken sehnigen Körper. Feine Schweißperlen rannen in seinen schwarzen Bart. Er wußte, daß er keine Chance hatte, wenn die verwirrte Menge den plötzlichen Schock überwand und ernüchtert aufwachte. Solange er sich im Strom der verbissen vorwärtsdrängenden Männer und Frauen aller Altersklassen befunden hatte, war er relativ sicher gewesen. Jeder kannte nur das eine Ziel, vor den anderen durch das schmale Tor unter dem Drachenkopf zu kommen. Es war wie ein geheiligtes Ritual – nicht nur in Glasgow, sondern überall auf Terra. Die vollkommen erstarrte Zivilisation des Zweiundzwanzigsten Jahrhunderts hatte keinen Platz mehr für unterschiedliche Lebensformen. Alles war genormt, geplant und in einem perfekten Gesellschaftssystem organisiert. Andy Bennet gehörte zu den paar Millionen Mitgliedern der straff geführten Oberschicht. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt konnte er sich frei und unangefochten unter die normalen Menschen mischen. Er trug die roten Stiefel der Rational-Technokraten und dazu Magnogie-Gurte um seinen schlanken Körper. Wer ihn angriff, wurde augenblicklich paralysiert. Doch diesmal hatte er Pech gehabt. Durch einen dummen Zufall war er unter jene Gruppe von Menschen geraten, die das Reservoir für den Nachwuchs der Rational-Technokraten bildeten. Er durfte die Abwehrkraft der Magnogie nicht voll einsetzen. Zu groß war das Risiko, daß er einen bisher noch anonymen Kandidaten der Führungsklasse schädigte, zu der er selbst gehörte. Zwei alte Männer mit rotgeränderten Augen und bestickten Baretten auf kahlen Köpfen drehten sich vor ihm zur Seite. Einer der beiden erkannte den jungen wissenschaftlichen Assistenten der Anti-Magie-Fakultät. 'Ein Stiefel-Mann!' Der heisere Aufschrei zitterte über die Köpfe der Menge hinweg. Mit knöchernen Fäusten drangen die beiden Alten auf Bennet ein. Sofort bildete sich ein dichter Pulk von Menschenleibern. Es war, als wäre die Wirkung der täglichen Beruhigungsdrogen plötzlich aufgehoben. Sie erkannten ihn! Bennet umklammerte den Magnogie-Regler vor seiner Brust. Er hatte versagt.

*

'Ich fürchte, wir müssen Bennet abschreiben', sagte der stellvertretende Chef der Anti-Magie-Fakultät. Als dienstältester Mathematiker hatte er während der Abwesenheit von Ing. Oberst Homer C. Saunders die Leitung von ANTIMAG übernommen. Er hob einen breiten Holografie-Streifen hoch. Die Spezialisten der psychologischen Versuchgsgruppen musterten schweigend die Belege für den Zwischenfall auf dem Vorplatz der Universität. 'Das sieht böse aus', meinte der Chefchemiker. 'Kommt drauf an, ob er die Gurte aktiviert oder nicht', gab der Semantiker der Gruppe zu bedenken. 'Sie bringen ihn um', stellte ein kleiner, hagerer Mann fest. Er war der Archäologe des Teams. 'Es sei denn, Bennet verstößt gegen Regel eins.' 'Das wird er nie tun!' sagte der stellvertretende Chef. Er fühlte sich unbehaglich in seiner Rolle. Seit Saunders auf dem Mond sein jährliches Reaktions-Training absolvierte, hatte ›Einstein‹ Mansfield jede Minute befürchtet, daß er versagen könnte. Er fühlte die seltsame Spannung, die in den streng gesicherten Räumen von ANTIMAG herrschte. Sein Magen krampfte sich zusammen, während er verzweifelt versuchte, nicht einfach aufzuspringen und davonzulaufen. ANTIMAG war im alten Hauptturm der Universität untergebracht. Die Spezialisten der Anti-Magie-Fakultät waren direkt dem General-Manager von ÖKOL-Nord unterstellt. Sie durften Drogen in die Versorgungsleitungen der Stadt einspeisen, Lichterscheinungen hervorrufen, die Atemluft chemisch verändern und mit ausgeklügelten Falschmeldungen das Denken von Millionen Menschen beeinflussen. ANTIMAG untersuchte das Entstehen von Haß und Glücksgefühlen, von Angst und Begeisterung, von Protest und Zustimmung für die Zivilisation der Rational-Technokraten. ›Einstein‹ Mansfield stellte nervös eine Monitorverbindung zu Bennets Arbeitsraum her. Das Spezialistenteam musterte schweigend die Versuchsanlagen. Mächtige Spulen waren mit armstarken Hohlleitern verbunden. Bipolar-Netze aus Drähten strahlten ein fahles Leuchten aus. Ein großes siderisches Pendel schwang mitten im Raum langsam hin und her. Aus großen Bottichen stieg dampfend eisiger Stickstoff auf. Eine Batterie von Magnetrons war an einem Stahlskelett befestigt. Und im Hintergrund erkannten die Spezialisten Dutzende von primitiven Wünschelruten vor vergilbten Plänen mit mittelalterlichen magischen Zahlengruppen. 'Bennet hat sich in den letzten Wochen ausschließlich mit dem Problem der Levitation beschäftigt', sagte schließlich der Archäologe. 'Mit Magnogie?' fragte der Semantiker. 'Nein – nicht direkt. Er war nicht an den physikalischen Grundlagen interessiert, sondern an Berichten aus der Vergangenheit der Menschheit über Zauberer und Magier, die angeblich fliegen konnten.' 'Das war gegen die Vorschrift!' stellte der Chefchemiker spitz fest. Er zog an seinen verätzten Fingern. 'Falsch', gab der stellvertretende Chef von ANTIMAG zurück. 'Ich weiß, daß Bennet von ganz oben einen Auftrag hatte.' 'Von Big Higg?' 'Nein, das nicht! Aber von Commander Kartschenko. Bei ÖKOL-Nord ist bekannt, daß die anonymen Mystiker überall in Europa eine spektakuläre Sache planen. Die Anomysts wollen angeblich geheime Ausbildungslager einrichten, in denen ihre Mitglieder das Fliegen ohne Magnogie lernen können.' 'Wahrscheinlich mit Weihrauch und Horoskopen', giftete der Chefchemiker. 'Wir sollten Bennets Sonderauftrag nicht zu leichtnehmen', sagte der stellvertretende Teamchef ahnungsvoll. 'Kartschenko gehört zwar nicht zur obersten Führungsspitze, aber er ist mindestens ebenso wichtig wie unser Chef. Und beide befinden sich auf dem Mond zum Training.' 'Das Sirren', meinte die Theologin des Teams. 'Könnte dieses wahnsinnige Sirren etwas mit den Anomysts zu tun haben?' 'Ich weiß nicht recht', meinte der hagere Mathematiker zögernd. Er blickte über die Köpfe der Versammelten hinweg. Die Spezialisten der Anti-Magie-Fakultät waren Experten der unterschiedlichsten Wissensgebiete. Keine Gruppe von Menschen in der nüchternen Zivilisation des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts war so widersprüchlich zusammengesetzt wie die Männer und Frauen im alten Hauptturm der Universität von Glasgow. 'Es hat keinen Zweck, wenn wir uns jetzt Gedanken machen', sagte der Chefchemiker nervös. 'ANTIMAG ist die geistige Versuchsküche dieses Jahrhunderts. Und wenn einer von uns versagt, müssen wir einen Abschlußbericht nach London schicken. Damit hat sich’s!' 'Ich fürchte, daß wir es uns nicht so einfach machen können', sagte die Theologin unbehaglich. 'Seit Monaten haben wir uns alle immer intensiver mit Geheimlehren beschäftigt. Die anonymen Mystiker sind zu einer ernsten Gefahr geworden.' 'Ganz richtig!' unterbrach der Semantiker. 'Ich habe Beweise, daß sich sogar die Sprache der Bevölkerung verändert. Überall werden in letzter Zeit ganz offen verdammt gefährliche Theorien diskutiert!' 'Aberglaube!' zischte der Mathematiker. 'Vielleicht', wehrte der Semantiker ab. 'Aber es könnte auch etwas dran sein an den Geschichten von Mysterra, der Gegenerde, an Parapsychologie, Wundern und Zauberei. Schließlich gehen auch die Religionen von seltsamen Übereinstimmungen aus.' 'Ich protestiere!' rief die Theologin scharf. 'Können Ihre Engel denn nicht fliegen?' bohrte der Semantiker. 'Und was ist mit Gott oder den zahllosen Universen, die gleichzeitig existieren?' 'Ich beantrage einen geschlossenen Mentalitäts-Test für die gesamte Fakultät!' forderte die Theologin. Im gleichen Augenblick zuckte ein gleißender Blitz durch das Lagezimmer im Turm. Stühle polterten zur Seite. Der Lärm ging unter in einem neuen, furchtbaren Sirren.

*

Die Menge wich vor ihm zurück. Knirschend krallten sich die Dorne aus seinen roten Stulpenstiefeln in den kupferfarbenen Boden. Sie saugten die Energie ab und verwandelten sie in ein schützendes Polster aus Prallfeld-Magnogie. Bennet wurde unangreifbar. Sie wußten es und haßten ihn dafür. Trotzdem mußte er immer wieder wütenden Schlägen ausweichen. Er begriff, daß er es nicht mit einer ängstlichen Menge, sondern mit teilweise Eingeweihten zu tun hatte. Taumelnd kam Bennet bis kurz vor das Tor. Er hatte es fast erreicht, als ein scharfer, unangenehmer Heulton aus dem Drachenkopf schallte. Neun Uhr vormittags! Der Drachenkopf ruckte in seine zentrale Position. Die Scheinwerfer in den Augenhöhlen erloschen. Schutzhauben schoben sich über die Objektive der Überwachungskameras. Das Tor zum Universitätsgelände schloß sich wie ein wulstiger Muskel aus Stahl und Panzerglas. Mit präziser Gewalt wurden alle zurückgeschoben, die jetzt noch den Einlaß erzwingen wollten. Bennet biß die Zähne zusammen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der drängende Schub sich umkehrte. Unter normalen Umständen wäre er nie auf die Idee gekommen, mit den Studenten durch das Tor zu gehen. Aber heute hatte er keine Zeit zu verlieren. Er hatte bis in die frühen Morgenstunden an einem neuen Experiment gearbeitet. Er wußte, daß sein Versuch offiziell verboten war. Deshalb hatte er ihn allein und während der Nachtstunden durchgeführt. Er wollte beweisen, daß es mehr als eine reale Welt gab. Nicht mehr und nicht weniger. Er wußte, daß ÖKOL ihn ausschalten mußte, wenn bekannt wurde, was er bisher herausbekommen hatte. Irgendwie war alles, was ein Mensch sah, hörte, fühlte oder empfand, nur eine Seite des Ganzen. Nur in den Träumen gab es Ansätze für den Weg in andere Welten, andere Wirklichkeiten. Nervös biß er sich auf die Enden seines schwarzen Schnurrbartes. Eingekeilt spürte er, wie die Energie des Magnogie-Feldes schwächer wurde. Als einziger in ganz Glasgow wußte er, daß in wenigen Augenblicken die gesamte Energieversorgung der Stadt zusammenbrechen würde. Er hatte noch in der Nacht alle Vorbereitungen getroffen. Was er für seinen Versuch brauchte, konnte ihm nur die zentrale Energieversorgung liefern. Und er brauchte alles an Strom und Magnogie-Reserven, was die Millionenstadt um neun Uhr fünf leistete. Im gleichen Augenblick durchdrang die erste Faust Bennets Magnogie-Schutz. Er spürte den Schlag genau zwischen den Schulterblättern. Das Handgemenge wurde heftiger. Der kurze Schmerz trieb Bennet die Tränen in die Augen. Sie rannen über sein hageres, bleiches Gesicht. Ein paar Meter weiter schrie ein Mädchen auf. Sie stolperte, und die Menge stürzte über ihren Körper hinweg. Zehn, zwanzig abgewiesene Studenten kreisten Bennet ein. Sie waren älter als er. Bennet taumelte. Er hatte nicht bemerkt, daß er bereits bis an den Rand des Vorplatzes zurückgedrängt worden war. Er stieß gegen eine niedrige Steinmauer. Bösartiges Gelächter kam auf. Sie glaubten, daß sie einen der eiskalten Zivilisations-Planer erwischt hatten. Verzweifelt klammerte sich Bennet an der niedrigen Mauer fest. Hinter der Mauer begann der Park der Universität. Der Park lag zwanzig Meter tiefer. Der Pulk aus Menschenleibern drängte Bennet über den Rand der Mauer. Er fühlte, wie die Steine nachgaben. Einer erst, dann immer mehr. Das Lärmen der Menge, die ihn töten wollte, versank. Andy Bennet hörte die immer greller werdenden Schreie der Wut nicht mehr. Eingekeilt und nur noch wenige Augenblicke von einem tödlichen Absturz entfernt, dachte er daran, was er falschgemacht hatte. Er beherrschte Theorie und Praxis von Yoga, Chiromantie, Hypnose, Spiritismus und Astrologie. Er kannte Hunderte von magischen Formeln auswendig. Esoterische und theosophische Geheimlehren waren ihm in den vergangenen Jahren so geläufig geworden wie der Satz des Pythagoras. Für einen Augenblick dachte er daran, daß er in den letzten Tagen zum Verräter geworden war. Commander Nikolai Kartschenko hatte ihm nicht die Wahrheit gesagt. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Er wollte nicht sterben! Trotzdem war er wehrlos, als er langsam das Gleichgewicht verlor. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Jetzt – als er langsam abkippte – gab es nur noch die anerkannten Naturgesetze. Bennet konnte nicht zaubern. Nie zuvor hätte er mehr dafür gegeben, auch nur einen Trick der Eingeweihten zu beherrschen! Vollkommen verloren suchte er nach irgend etwas, an dem er sich festklammern konnte. Sein Blick glitt über den massiven Hauptturm der Universität. Dort oben hatte er die vergangenen Nächte damit verbracht, Experimente der Dematerialisation mit Magnogie-Daten zu verbinden. Es war ihm gelungen, Geldstücke zum Schweben über tiefgekühlten Magnetspulen zu bringen. Diesmal schwebte er selbst! Sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Im gleichen Augenblick verschwand der Turm der Universität von Glasgow. Bennet fühlte, wie er flog. Er breitete die Arme aus. Es war ein seltsames, aufregendes Gefühl.

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Science Fiction
Sprache:
deutsch
Umfang:
80 Seiten
ISBN:
9783954481323
Erschienen:
September 2013
Verlag:
Redimus
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