Buch

Der lange Schatten der Miliz - Ulrich Schneckener, Christoph König, Sandra Wienand

Der lange Schatten der Miliz

von Ulrich Schneckener Christoph König Sandra Wienand

Vorwort Gewaltakteure der unterschiedlichsten Schattierung spielen eine zentrale Rolle in den aktuellen Krisen und Kriegen. Die Bandbreite reicht dabei von Aufständischen, Rebellenorganisationen und terroristischen Akteuren über Warlords und Söldnern bis hin zu kriminellen Banden und privaten Sicherheitsdiensten - sowie eben Milizen. Dieser Akteurstyp, der für die Verteidigung eines politischen Status quo steht, und seine spezifische Gewaltstrategie stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Sie handelt vom "langen Schatten", den Milizen auf ihre Gesellschaften werfen; sie analysiert die Entstehung, die Entwicklung und die Persistenz von Milizgewalt sowie deren strukturbildende Folgen für Staat und Gesellschaft - am Beispiel zweier Fälle. Dieses Buch ist das Ergebnis eines mehrjährigen Forschungsprozesses und entstand im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes zur Rolle von Milizen in Kriegen und fragilen Staaten, das wir von Oktober 2012 bis Juni 2017 durchführten. Der Band wird von uns gemeinsam verantwortet, die Konzeption wurde gemeinsam entwickelt, alle Kapitel wurden wechselseitig gelesen, kommentiert und überarbeitet. Dennoch gibt es für die einzelnen Teile hauptverantwortliche Autor*innen: Ulrich Schneckener verfasste die Einleitungs- und Schlusskapitel I, IV und V, während Sandra Wienand (Kapitel II) und Christoph König (Kapitel III) für die beiden vertieften Fallstudien zu den Paramilitärs in Kolumbien und den Peschmerga in Kurdistan-Irak verantwortlich sind. Ein solches Unterfangen, das nicht zuletzt eine Reihe von Feldaufenthalten erforderte, wäre nicht möglich ohne die konstruktive Begleitung und Unterstützung durch zahlreiche Personen, denen wir zu großem Dank verpflichtet sind. Das Projektteam bedankt sich insbesondere bei Stiven Tremaria für seine langjährige Mitwirkung als wissenschaftliche Hilfskraft, die u. a. einen eigenständigen Feldaufenthalt in Medellín umfasste, bei Sven Keller für seine Unterstützung bei der Erstellung von Datensätzen und Karten sowie bei Susanne Hölscher und Johanna Freimuth für ihre Unterstützung bei Korrekturen und der Fertigstellung des Manuskripts. Darüber hinaus erhielt das Projekt wertvolle Hinweise und Impulse von verschiedenen Kolleg*innen sowohl in Deutschland als auch in den beiden Fallregionen. Wir danken daher Günther Maihold, Rainer Dombois, Enzo Nussio, Andrea Fischer-Tahir, Cilja Harders, Salim Hajy und Khoshawe Kamal. Schließlich danken wir herzlich einer Reihe von Personen, die uns maßgeblich bei Übersetzungen (vor allem aus dem Kurdischen) und vor Ort bei der Feldforschung unterstützt haben, die aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht namentlich genannt werden wollen. Abschließend möchten wir den beiden Herausgebern, Klaus Schichte und Peter Waldmann, für die Aufnahme des Bandes in die Reihe "Mikropolitik der Gewalt" danken. Ulrich Schneckener, Christoph König, Sandra Wienand Osnabrück, Juli 2018 I Die Rolle von Milizgewalt in Kriegen und fragilen Staaten 1. Einleitung Ob kolumbianische oder philippinische Paramilitärs, christliche Forces Libanaises, Kamajors in Sierra Leone, sudanesische Janjaweed, peruanische Rondas Campesinas, kurdische Peschmerga oder (überwiegend) schiitische al-Hashed al-Sha'bi im Irak, Abarkees in Afghanistan oder ukrainische Freiwilligenbataillone - so sehr sich diese bewaffneten Gruppierungen in ihrer Genese, Struktur, konkreten Zielsetzungen und der Wahl ihrer Mittel unterscheiden, teilen sie doch einen gemeinsamen Kern. Bei ihnen handelt es sich um Milizformationen, die ihrem Selbstverständnis nach als "Verteidiger" oder "Hüter" einer politischen und sozialen Ordnung auftreten und den Anspruch erheben, diese vor inneren und äußeren "Feinden" zu schützen. Dabei agieren sie, jedenfalls anfangs, im Interesse oder unter Billigung einer Regierung, dominierender Eliten, politischer Parteien, Clans oder anderer gesellschaftlicher Akteure (bspw. Großgrundbesitzer, Kaufleute, einflussreiche Familien). Je nach Kontext werden Milizen auch als Paramilitärs, Freiwilligenverbände, Schutzbünde, "Civil Defence Forces" oder Bürgerwehren bezeichnet. Bereits die Vielzahl an Titulierungen verweist auf die Vielschichtigkeit des Milizphänomens, das häufig zwischen formal-staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt changiert. Oder in den Worten von Blom (2009: 135): "Militia is one of the most ambiguous words in military vocabulary. It veers between two extremes, from a back-up police force that replaces or reinforces a regular army to an illegal formation tasked by a community […] with defending its interests through the use of force." Darüber hinaus erweist sich der ubiquitäre Gebrauch des Begriffs, wonach nahezu jede bewaffnete Gruppierung in der medialen Darstellung oder umgangssprachlich als Miliz bezeichnet wird, analytisch als wenig hilfreich. Zum einen gilt es den Typus Miliz von der staatlichen Gewalt bzw. vom formalen Staatsapparat abzugrenzen, was empirisch mitunter nicht ganz eindeutig ist, zumal dann, wenn - wie bspw. in Kolumbien, Guatemala, auf den Philippinen, in Zimbabwe oder in jüngerer Zeit in der Ukraine - eine materielle und personelle Verzahnung mit staatlichen Sicherheitskräften, der Regierung oder der dominierenden Regierungspartei bestand. Gleichwohl sind Milizen vielerorts nicht nur rein formal und institutionell vom Staatsapparat getrennt, sondern sie verfügen auch über einen gewissen Grad an Handlungsautonomie. Sie folgen einer eigenen Organisationslogik, sie entwickeln entsprechende Interessen und Agenden. Eine Charakterisierung als "proxy warriors" (Ahram 2011a), "pro-regime strongmen" (Alden et al. 2011) oder "pro-government"-Akteure (Carey et al. 2013) greift daher zu kurz und läuft Gefahr, das Eigenleben dieser Gruppierungen und somit die Persistenz von Milizgewalt zu unterschätzen. Zum anderen unterscheiden sich Milizen von anderen Formen nicht-staatlicher Gewalt. Grundlegend ist hierbei die Differenz zu Rebellen oder Aufständischen, die auf einen radikalen Wandel, auf den Sturz eines Regimes oder auf die Abspaltung eines Landesteils (Separatismus) setzen. Kurzum: Rebellische oder aufständische Gewalt zielt auf eine Änderung des politischen Status quo, Milizgewalt hingegen auf die Beibehaltung und Verteidigung einer - wie auch immer - definierten Ordnung. Der Milizionär ist insofern typologisch die Gegenfigur zum Rebellen. Er setzt seine Gewalt explizit gegen jene Akteure und Bevölkerungsgruppen ein, die einen Status quo gefährden oder potenziell gefährden können. Auf dieser Basis lassen sich Milizen wie folgt charakterisieren: Bei ihnen handelt es sich um aus der eigenen Bevölkerung rekrutierte, paramilitärisch organisierte und bewaffnete Verbände, die aber nicht institutionell oder formal Teil des staatlichen Sicherheitsapparates sind. Sie agieren vielmehr als Schutz- oder Hilfstruppen jener Status quo-Kräfte einer Gesellschaft, für die Milizgewalt instrumentell zur Absicherung bestimmter Interessen, Privilegien und Ordnungsvorstellungen ist. Diese Kräfte fungieren in der Regel auch als direkte Auftraggeber, Sponsoren oder - allgemeiner formuliert - Stakeholder (Francis 2005: 2) der Milizen. Beide - Stakeholder wie Milizorganisationen - legitimieren Milizgewalt als eine Form der politisch motivierten Gewalt, die für den Schutz und die öffentliche Sicherheit erforderlich sei. Milizen zeichnen sich daher durch "Status-quo-orientierte Gewalt" (Schneckener 2015) bzw. "establishment violence" (Rosenbaum?/?Sederberg 1974) aus. Trotz dieser Merkmale bleibt eine konzeptionelle Ab- und Eingrenzung des Milizphänomens im Einzelfall auch deshalb schwierig, weil Milizen unterschiedlicher Schattierung in ein Geflecht aus staatlichen wie gesellschaftlichen Akteuren eingebunden sind und sich diese Konstellation im Zeitverlauf ändern kann. Milizen und Milizgewalt können demzufolge als ein Ausdruck der grundsätzlich konflikthaften Staat-Gesellschaft-Beziehungen verstanden werden (Migdal 1988: 24-33). Die Existenz von Milizen verweist auf ein bestehendes Misstrauen zwischen dem Staat, verkörpert durch Regierung und Staatsapparat, und (Teilen der) Gesellschaft oder zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die um die Macht im Staat konkurrieren. Sie sind insofern ein Abbild innergesellschaftlicher Konflikte und Trennlinien. Aus konfliktsoziologischer Sicht ist die Bildung von Milizen ein sichtbarer Beleg für eine fortschreitende Spaltung in einer Gesellschaft, bei der die Bevölkerung oder Teile davon aufgefordert werden, sich auf die Seite der Status-quo-Verteidiger zu stellen und einer tatsächlichen oder antizipierten Bedrohung der eigenen "Wir-Gruppe" zu begegnen. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für diese Studie zur Genese und Persistenz von Milizgewalt: In vielen Fällen zeigt sich, dass Milizen nicht nur in unterschiedlichen Konfliktkonstellationen auf den Plan treten, sondern ihre Strukturen und ihre Gewaltpraktiken zumeist über Jahrzehnte fortexistieren. Anders formuliert: Die Milizgewalt bleibt Staat und Gesellschaft oftmals auf lange Sicht erhalten, auch wenn sich ihre Erscheinungsformen sowie die äußeren Umstände wandeln mögen, sogar selbst dann, wenn ihr ursprünglicher Zweck längst entfallen ist. Das zentrale Argument lautet daher: Die lange Lebensdauer des Milizphänomens hängt zum einen mit der Fortschreibung der dahinter stehenden Konfliktsituationen zusammen, zum anderen aber auch mit der Eigenlogik von Milizgewalt, die nicht nur wiederholt temporäre Gewalt- und Eskalationsspiralen in Gang setzen und halten kann, sondern die sich über Zeit auch als latente Gewalt tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingräbt und sich auf politische Prozesse auswirkt. Die Studie will einen Beitrag zum genaueren Verständnis dieser Milizgewalt, ihrer Persistenz und ihrer Konsequenzen leisten. Dazu gilt es erstens die Genese und Entwicklung von Milizformationen eingehender zu untersuchen, zweitens die Funktionsweise und Dynamiken von Milizgewalt besser zu verstehen sowie drittens die Gründe für die Persistenz sowie ihre Folgen für Staat und Gesellschaft herauszuarbeiten. Dafür wurden zwei Fälle ausgewählt, die als paradigmatisch gelten können: die paramilitärischen Verbände in Kolumbien sowie die kurdischen Peschmerga im Nordirak. An beiden Fällen lässt sich nicht nur der Einsatz von Milizen zu unterschiedlichen Zwecken darstellen, sondern auch die Persistenz von Milizgewalt auf verschiedenen Pfaden verfolgen, die jeweils andere Konsequenzen für die kolumbianische bzw. kurdische Gesellschaft haben. Während im kolumbianischen Fall diverse Mutationen von Milizformationen beobachtet werden können, zeichnet sich der irakisch-kurdische Fall - ungeachtet aller Kriege und Wandlungen - durch eine bemerkenswerte Kontinuität aus. Beide Konstellationen führen aber im Ergebnis zu einem langen Schatten der Milizen, der bis in die Gegenwart reicht. 2. Idee und historische Entwicklung des Milizwesens Der Rückgriff auf Milizen zur "Verteidigung" und zum "Schutz" von Regierungen, Territorien, Bevölkerungsgruppen oder spezifischen Interessen ist kein neuartiges Phänomen, sondern stellte zu allen Zeiten eine Strategie von Herrschenden oder dominierenden gesellschaftlichen Kräften dar. In der historischen militärstrategischen Literatur wurden dem Milizkonzept unterschiedliche Funktionen zugeschrieben: Es diente als Alternative zum Söldnerwesen, als Ersatz für ein stehendes Heer oder als Unterstützung für eine reguläre Armee. Für die erste Variante steht Niccolò Machiavelli (1469-1527), für die zweite Alexander Hamilton (1755?/?7-1804) und für die dritte Carl von Clausewitz (1780-1831). Machiavelli wandte sich vehement gegen die Söldnertruppen (Condottieri) des 14.?/?15. Jahrhunderts, die zum Schutz der oberitalienischen Städterepubliken angeheuert und bezahlt wurden. Stattdessen empfahl er die Aufstellung von Bürgermilizen. Söldner hingegen seien nicht nur teurer und führten zu wiederholten Steuererhöhungen, sondern sie seien für die Regierenden nach innen wie nach außen kontraproduktiv. In "Il Principe" (Kap. XII) brachte Machiavelli seine Kritik auf den Punkt: "Die Söldner und die Hilfstruppen sind unnütz und gefährlich, und wer seine Macht auf angeworbene Truppen stützt, der wird nie fest und sicher dastehen" (Machiavelli 1990: 64-65). Und weiter: "Söldnerführer sind entweder hervorragende Männer oder nicht. Sind sie es, so ist kein Verlass auf sie, weil sie stets nach eigener Größe trachten, indem sie entweder dich, ihren Kriegsherrn, oder andere gegen deinen Willen unterdrücken. Ist aber der Feldhauptmann untüchtig, so bereitet er seinem Kriegsherrn meist den Untergang" (ebd.: 65). Er plädierte daher für die Einführung von "gens d'armes" nach französischem Vorbild. Als Chef der Florentiner Militärbehörde erhielt Machiavelli die Gelegenheit, seine Überlegungen in die Tat umzusetzen und eine Miliz (ab 1506), bestehend aus Bauern und Bürgern, aufzubauen. Zwar gab es anfänglich militärische Erfolge (1508 Wiedereingliederung der von Florenz abtrünnigen Stadt Pisa), jedoch misstraute die regierende Oberschicht grundsätzlich der Bewaffnung von Einwohnern aus den unteren Schichten. Daher wurden nur bestimmte Teile der Bürgerschaft ausgerüstet und gleichzeitig basierte die Führung der Miliz auf einem Rotationsprinzip (Münkler 1984: 381-394). Nach einigen Misserfolgen wurde Machiavellis Miliz 1512 wieder aufgelöst und Florenz kehrte zum Söldnerwesen zurück. Hamilton hielt eine "well-regulated militia" für die "natürlichste Form" der Verteidigung eines freien Landes. In seinem Artikel "Concerning the militia" (Federalist Papers no. 29, 1788) zog er eine solche Formation einer stehenden Berufsarmee vor, die er - wie die meisten Gründerväter der USA - für eine potenzielle Bedrohung der neu gewonnenen Freiheit hielt. Sein Hauptanliegen bestand allerdings darin, dafür zu werben, dass die neue Union eine eigene Miliz ("a select corps of moderate extent") aufbauen, unterhalten und ausrüsten dürfe, um Bundesgesetze vollziehen und die Landesverteidigung gewährleisten zu können. Um dabei Kontrolle und Mitsprache der Bundesstaaten zu garantieren, sollten diese für die Auswahl der Offiziere und - auf der Grundlage gemeinsamer Standards - für die Ausbildung zuständig bleiben. Ferner sollten die etablierten einzelstaatlichen Milizverbände dazu verpflichtet werden, sich im Falle von inneren Unruhen oder einer Invasion von außen gegenseitigen Beistand zu leisten. Die Milizkonzeption resultierte aus den Erfahrungen der weißen nordamerikanischen Siedler, die sich traditionell zur Selbstverteidigung bewaffneten. Zudem durften lokale Autoritäten (Sheriffs) einfache Bürger zur Durchsetzung von Recht und Gesetz rekrutieren. Vielerorts hatte sich die Praxis der sogenannten "minutemen" etabliert, die innerhalb kürzester Zeit abrufbar waren, um eine Siedlung vor Übergriffen zu schützen oder um Kriminelle zu verfolgen. Hamiltons Sichtweise, die auf einen Mittelweg zwischen Zentralisierung und Professionalisierung von Milizen einerseits und dem angestammten Recht auf Bewaffnung andererseits hinauslief, schlug sich später im 2. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung (1791) nieder, in dem es heißt: "A well regulated militia being necessary to the security of a free State, the right of the People to keep and bear arms shall not be infringed." Für Clausewitz war hingegen die "Volksbewaffnung" eine zusätzliche Option, um ein reguläres Heer gegen einen externen Feind zu unterstützen. In seiner Schrift "Vom Kriege" (Kap. XIX) sprach er von der "Volksbewaffnung" als "letztes Hilfsmittel nach verlorener Schlacht oder als ein natürlicher Beistand, ehe eine entscheidende Schlacht beliefert wird" (Clausewitz 2003: 284). Er verwies auf das Beispiel Preußens, das 1813 im Kontext der anti-napoleonischen "Befreiungskriege" seine Streitkräfte durch die Aufstellung von Milizen als Hilfstruppen versechsfacht habe. Dabei wurde zwischen Einheiten der Landwehr (Edikt vom 17.3.1813) und des Landsturms (Edikt vom 21.4.1813) unterschieden (Daase?/?Davis 2015: 195-204): Während die Landwehr - bestehend aus Freiwilligen im Alter von 17 bis 40 Jahren - der Armee mehr oder minder gleichgestellt wurde, war der Landsturm so etwas wie das letzte Aufgebot, das aber durch die dezentrale, weniger hierarchische Organisation, die leichte Bewaffnung und die lokale Verankerung stärker den Charakter einer Miliz hatte. Die nur mäßig trainierte Landbevölkerung sollte weniger in der direkten militärischen Konfrontation eingesetzt werden als vielmehr dem Schutz der Gemeinden und Bezirke dienen. Clausewitz mahnte zwar ein Zusammenwirken der "bewaffneten Volkshaufen" mit dem Militär an, wies aber auf die taktischen Nachteile der Miliz hin: "Der Charakter eines Landsturmgefechtes ist der aller Gefechte mit schlechteren Truppenmassen: eine große Gewalt und Hitze im Anlauf, aber wenig kaltes Blut und wenig Nachhall in der Dauer" (Clausewitz 2003: 283). Aus diesen Versionen lassen sich wesentliche Elemente des Milizverständnisses herausfiltern, auch wenn sich die jeweiligen Organisationsformen im Detail unterschieden: Bei allen drei Varianten handelt es sich im Kern um bewaffnete, geschulte Zivilisten, die neben ihrer sonstigen zivilen Tätigkeit einer paramilitärisch organisierten Miliz angehören und zu bestimmten Zwecken in Aktion treten, um eine bestehende Ordnung zu schützen, sei es in Friedens- oder Kriegszeiten. Diese Einheiten aus Freiwilligen unterstehen dabei direkt der jeweiligen Obrigkeit; Einsatz, Rekrutierung, Ausrüstung und Ausbildung werden entsprechend durch Erlasse oder Gesetze reguliert. Diese Konzeption bezeichnete Francis (2005: 2) als "first generation understanding" von Milizen: "[T]hey are trained as soldiers, but not part of a regular army, and are regarded as a supplementary force or reserve army, organized by the state or government." Ausgehend von dieser Grundidee wurden Milizen im Laufe der Zeit in sehr unterschiedlichen Kontexten aufgestellt, wobei sie verstärkt als ein Instrument in innergesellschaftlichen Machtkämpfen und zur Absicherung einer Ordnung nach innen begriffen wurden. Verbunden war diese Tendenz mit einer Ausweitung des Aufgabenspektrums und der wachsenden Zahl interessierter Stakeholder. Laut Francis (2005: 2-3) sind dies Indikatoren für Milzen einer "zweiten Generation". Insbesondere in Folge des Ersten Weltkrieges und des Zerfalls der multi-nationalen Reiche der Habsburger, Osmanen und Romanovs kam es in Ost- und Südeuropa zu einer Vielzahl von paramilitärischen Gewaltakteuren, die zwischen 1917?/?18 und 1923 an Bürger- und Unabhängigkeitskriegen, Revolutionen und Gegenrevolutionen sowie an Pogromen und Massenvertreibungen, nicht zuletzt im Zuge von Grenzverschiebungen und der Bildung neuer Staaten, beteiligt war (Gerwarth?/?Horne 2013). Dazu gehörten anti-revolutionäre Kräfte wie russische Weißgardisten oder deutsche Freikorps (bestehend aus demobilisierten Soldaten und Offizieren) ebenso wie ukrainische Bauern- und Kosakenmilizen, italienische Veteranenverbände (Arditi) oder paramilitärische Gruppierungen, die im griechisch-türkischen Krieg (1919-22) auf beiden Seiten die regulären Streitkräfte verstärkten und für ethnische Säuberungen mitverantwortlich waren. Als geradezu paradigmatisch für die Entwicklung unterschiedlicher Milizprofile können zwei andere Fälle aus dieser Zeitperiode gelten: Das erste Beispiel sind die sogenannten "Black and Tans", die im irischen Unabhängigkeitskrieg (1919-21) zur Unterstützung der Royal Irish Constabulary und der pro-unionistischen Ulster-Miliz (Ulster Volunteer Force, gegründet 1913) aufgestellt wurden, um die Union mit Großbritannien zu verteidigen. Diese Truppe, benannt nach den Farben ihrer Dienstkleidung (eine Mischung aus Armee- und Polizeiuniformen), rekrutierte sich aus ehemaligen britischen Soldaten (rund 9000 Mann); daneben bestand noch eine Auxiliary Division aus Ex-Offizieren. Beide Verbände sollten para-polizeiliche und para-militärische Aufgaben übernehmen, um den Guerillakampf der irisch-nationalen IRA zu unterbinden. Gleichzeitig vermied damit die britische Regierung, mit regulären Truppen direkt in den Konflikt zu intervenieren. Im Zuge der gewaltsamen Eskalation erwiesen sich die Milizeinheiten jedoch als kontraproduktiv, da sie zunehmend für Folter, Mord, willkürliche Verhaftungen oder das Niederbrennen von Häusern verantwortlich und zudem in kriminelle Machenschaften verstrickt waren (Dolan 2013). Das zweite Beispiel betrifft die 1919 gegründeten Kampfverbände Fasci italiani di cambattimento (auch als squadristi oder "Schwarzhemden" bekannt), die mit massiver Gewalt gegen konkurrierende italienische Parteien vorgingen, nicht zuletzt im Kontext von Wahlkämpfen und Wahlen. Die faschistische Bewegung, seit 1921 als Partito Nazionale Fascista aktiv, verstand sich von Beginn an als ein bewaffneter Akteur, weshalb Gentile (2013) von einer "Milizpartei" spricht. Im Parteiprogramm wurde die "untrennbare Einheit mit den Kampfbünden, der Freiwilligenmiliz im Dienst der Nation und des Staates" (zitiert nach Gentile 2013: 161) betont. Nach Mussolinis Ernennung zum Regierungschef wurde Anfang 1923 als paramilitärische Organisation der Partei die Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale gegründet (rund 190 000 Mann), um die Macht der Faschisten zu sichern und auszubauen. Dieser Schritt sei, so erklärte Mussolini später, das "Todesurteil" für den demokratisch-liberalen Staat gewesen, denn: "Die bewaffnete Partei führte das Regime" (zitiert nach Gentile 2013: 150). Dienten im ersten Fall die Milizen zur Bekämpfung von (irischen) Aufständischen, ging es im italienischen Kontext um die Ausschaltung von politischen Konkurrenten und schließlich um die Absicherung eines neuen Regimes. Auch nach 1945 setzten sich solche Herrschaftspraktiken in veränderter Form fort. Zum einen betrieben europäische Kolonialmächte die Aufstellung und Ausrüstung von einheimischen Milizen, um gegen anti-koloniale Befreiungsbewegungen vorzugehen, sei es Frankreich im Algerienkrieg, Großbritannien in Malaya und Kenia (Home Guards) oder Portugal in Guinea-Bissau, Angola und Mozambique. Im Rahmen von counter-insurgency-Kampagnen während des Vietnamkrieges griffen die USA auf diese Methoden zurück, indem U. S. Marines gemeinsam mit lokalen vietnamesischen Milizen Dörfer sichern und verteidigen sollten (ab 1965 Combined Action Platoons, vgl. Peic 2014: 166). In jüngerer Zeit unternahmen die USA und ihre Verbündeten ähnlich gelagerte Versuche mit der Ausbildung und Ausrüstung von Stammes- und Dorfmilizen im Irak (Mowle 2006) und in Afghanistan (Schmeidl?/?Karohail 2009; Jones 2012: 21-33). Zum anderen entwickelte sich in den 1960er und 1970er Jahren mit der Ausbreitung von rechtsgerichteten Todesschwadronen ("death squads"), vor allem in lateinamerikanischen Staaten, eine weitere Spielart des Milizwesens. Sie erledigten für autoritäre Regierungen bzw. für herrschende Eliten das "schmutzige Geschäft", indem sie (angeblich kommunistische) Regimegegner entführten, folterten und ermordeten. Teils geschah dies verdeckt, teils offen, um die Bevölkerung einzuschüchtern (Campbell?/?Brenner 2002; Mazzei 2009). Zu Pogromen kam es auch Mitte der 1960er Jahre in Indonesien, als das Militär mit breiter Unterstützung von nationalistischen und religiösen Partei- und Jugendmilizen (bspw. Pancasila-Front) gewaltsam gegen die kommunistische Partei PKI und ihre (vermeintlichen) Anhänger vorging (Gerlach 2011: 27-123). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bis heute weltweit Milizen unterschiedlichen Typs, nicht zuletzt in Afrika, Lateinamerika und Asien, existieren, um im "Auftrag" oder unter Billigung einer Regierung, dominierender Eliten oder anderer Gruppierungen zu handeln (siehe Datensätze bei Jones 2012 und Carey et al. 2013). Trotz der langen Historie, ihrer Häufigkeit und Vielgestaltigkeit sind Milizen im Vergleich zu anderen Formen organisierter Gewalt mit Blick auf ihre Entstehung und Entwicklung, ihre Handlungsmuster, ihre Art und Weise der Gewaltanwendung sowie die längerfristigen Konsequenzen für Staat und Gesellschaft jedoch vergleichsweise wenig erforscht. 3. Stand der Forschung Die Forschung zu Bürgerkriegen konzentrierte sich lange Zeit auf die klassische, binäre Auseinandersetzung zwischen einer Regierung und Rebellen- bzw. Aufstandsbewegungen sowie deren jeweiligen Unterstützern (siehe vor allem Kalyvas 2006; Weinstein 2007). Daneben stand die Logik von Gewalt- und Kriegsökonomien im Blickpunkt, bei denen Rebellenführer, Warlords, kriminelle Organisationen und mitunter terroristische Netzwerke als prominente Profiteure ausgemacht werden, die eher durch "greed" denn durch "grievance" motiviert seien. Eine weitere Perspektive bietet die Analyse von lokalen Gewaltordnungen, bei denen Gewaltakteure - wie typischerweise Rebellen oder Warlords - entweder Parallelstrukturen zum Staat aufbauen oder aber in der Lage sind, Teile des Staatsgebietes zu kontrollieren und dort quasi-staatliche Strukturen zu etablieren (Bakonyi et al. 2006). In der Security Governance-Literatur, die sich auch mit der "Privatisierung" oder dem "Outsourcing" von Sicherheit beschäftigt, dominieren ferner Untersuchungen zur Rolle von privaten Sicherheits- und Militärfirmen (PSCs?/?PMCs), die von unterschiedlichen Auftraggebern, in der Regel von Regierungen, angeheuert werden, um vom Wachschutz bis hin zur operativen Kriegführung bestimmte Dienstleistungen und Sicherheitsfunktionen zu übernehmen (Singer 2003; Leander 2005; Krahmann 2005; Jäger?/?Kümmel 2007). Bei keinem der genannten Felder finden Milizen eine besondere Berücksichtigung, obwohl sie nicht weniger häufig in bewaffneten Konflikten oder post-kolonialen Kontexten anzutreffen sind als etwa Aufständische oder PSCs?/?PMCs. Ihre Gründung und ihr Einsatz folgen allerdings weder der typischen "Rebellenlogik", sich aktiv gegen eine bestehende Ordnung zu wenden, noch der kommerziellen Logik von Sicherheitsfirmen, auch wenn sie teilweise in ähnlicher Form für Sicherheitsdienstleistungen genutzt werden. In aller Regel werden, wie eingangs erläutert, Milizen gegründet, um einer (vermeintlichen) Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu begegnen oder vorzubeugen. Die wesentliche Rechtfertigung lautet vielfach, dass sie zur Stärkung und zum Schutz von Staatlichkeit beitragen und damit - paradoxerweise - den Gewaltmonopolanspruch des Staates unterstützen sollen. Allerdings kann dies auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen, weshalb sich in der Literatur zu Milizen eine Fülle von Bezeichnungen findet, um diverse Spielarten näher zu bestimmen und voneinander abzugrenzen. Zumeist geschieht dies durch die Verwendung von Attributen, die spezifische Charakteristika betonen: Je nach Perspektive werden (i) die jeweiligen Auftraggeber bzw. Sponsoren einer Miliz, (ii) ihr sozio-kultureller Hintergrund bzw. ihre Mitgliederstruktur sowie (iii) ihr Status (legal?/?illegal) und Organisationsgrad (bspw. formell?/?informell) als Referenzpunkte herangezogen. Dabei handelt es sich nicht um eine trennscharfe Einteilung, sondern im konkreten Einzelfall dürften mehrere Charakteristika vorliegen, weshalb ein und dieselbe Miliz bspw. als "state-sponsored", "youth militia" und "freelance militia" beschrieben werden könnte. Auch Begriffspaare wie "semi-official" versus "informal militias" (Carey et al. 2013: 251) oder "state-manipulated" versus "state-parallel militias" (Aliyev 2016: 502-504) eignen sich nur begrenzt zur kategorialen Unterscheidung oder zur empirischen Untersuchung. Zwar mag ein legaler oder legalisierter Status, wie er bei "semi-official militias" oder "state-parallel militias" unterstellt wird, ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal zu anderen Milizformationen sein. Ansonsten aber verschwimmen die Kategorien relativ rasch, da sich Milizen über Zeit wandeln und Zuordnungen nur temporär (meist bezogen auf die Formationsphase) möglich sind. Weiterführender sind Ansätze, die sich mit der Genese und Entwicklung von Milizen im Allgemeinen bzw. mit ihrem Verhältnis zu Staat und gesellschaftlichen Gruppen im Besonderen beschäftigen. Dabei können fünf Perspektiven unterschieden werden: Erstens wird der Frage nachgegangen, warum und unter welchen Bedingungen Regierungen bzw. staatliche Sicherheitsapparate Milizen für bestimmte Zwecke einsetzen. Zumeist dominieren Rational Choice-Annahmen, die Kosten-Nutzen-Kalküle auf Seiten des Staates und den instrumentellen Charakter von Milizen betonen. Diese dienen danach als Alternative zum regulären Militär, als zusätzliche Ressource ("force multiplier") oder als taktisches Mittel bei der irregulären Kriegführung (Ahram 2011a; Carey et al. 2013; 2015). Darüber hinaus bieten Milizen für den Staat die Möglichkeit von "plausible deniability" (Ahram 2016: 219), d. h. bei Gewalttaten, die gegen Menschenrechte oder humanitäres Völkerrecht verstoßen, eine staatliche Verantwortung abzustreiten bzw. die Zurechenbarkeit zu verschleiern (Carey et al. 2015). Ahram (2016) weist ferner auf Basis einer quantitativen Analyse daraufhin, dass die Wahrscheinlichkeit von "pro-government"-Milizen je nach Regimetyp variiere: Danach seien "low capacity autocracies", vor allem Ein- oder Mehrparteien-Regime, besonders geneigt, Milizen zu unterhalten, während bei "high capacity democracies" und bei Militärdiktaturen die Wahrscheinlichkeit am geringsten sei. Zweitens wird die Bildung von Milizen im Kontext von bewaffneten Konflikten verortet, weshalb Jentzsch et al. (2015) Milizen als "dritten" Akteur neben Militär und Rebellen in die Bürgerkriegsforschung einführen und primär aus der Eskalationsdynamik von Rebellion und counter-insurgency-Kampagnen erklären. Milizen sind dabei eine Reaktion auf die Existenz anderer Gewaltakteure, die offen den politischen Status quo attackieren oder durch ihre Aktivitäten in Frage stellen könnten. Für Barter (2013) hängt die Art und Weise, wie Milizen gegründet werden und agieren, von der Stärke der jeweiligen Rebellenbewegung ab, die es zu bekämpfen gilt. Dort, wo die staatliche Gewalt dominiere, seien Milizen eher als "state proxies" zu bezeichnen, die etwa als Todesschwadronen nach Angehörigen oder Anhängern der Rebellenorganisation fahnden. In Regionen, in denen die Insurgenten militärisch überlegen seien, würden dagegen in stärkerem Maße lokale Autoritäten Milizen zur Selbstverteidigung aufstellen. Staniland (2015) argumentiert demgegenüber, dass die politische Ideologie und die Bedrohungsperzeption eines Regimes von entscheidender Bedeutung sei, ob und inwiefern Milizen in Bürgerkriegen genutzt würden. Dabei unterscheidet er vier idealtypische Strategien ("suppression", "containment", "collusion" und "incorporation"), die der Staat je nach "regime ideology" gegenüber Milizen verfolge (Staniland 2015: 772-776). Drittens wird die Existenz von Milizen als Ausdruck post-kolonialer, fragiler Staatlichkeit verstanden, bei der sich ein geordnetes und als legitim erachtetes staatliches Gewaltmonopol nur in Ansätzen durchgesetzt hat.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
ISBN:
9783593440538
Erschienen:
November 2018
Verlag:
Campus Verlag GmbH
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