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Buchstabenwürfel bilden das Wort WIKI

Lesegewohnheiten

Wie der Leser Wikipedia überführte

Laut Wikipedia ist ein Leser per Definition nicht mehr als „eine lesende Person“. Wie sehr die Online-Enzyklopädie damit irrt, hat „Was liest Du?“-Redakteurin Maren Kahl nachgezeichnet. Eine Liebeserklärung ans Lesen in fünf Akten.

Angeblich sind die Informationen, die man auf Wikipedia findet, häufig nicht zuverlässig oder gar falsch. Aber seien wir doch mal ehrlich? Wer liest sich nicht erstmal den Wikipedia-Eintrag durch, wenn er sich für die Schule, die Uni oder auch privat über ein Thema informieren möchte? Doch bei der Recherche für diesen Artikel bin ich tatsächlich auf eine eher fragwürdige Begriffserklärung gestoßen, der ich gerne eine Alternative entgegensetzen würde …

Sprechen wir vom „Leser“. Wikipedia definiert einen Leser als „eine lesende Person“. Was wenig aussagekräftig ist und unseren Ansprüchen beim besten Willen nicht genügen kann. Deswegen möchten wir diese Definition ein wenig erweitern. Wir gehen also ganz wissenschaftlich an die Sache heran und arbeiten mit einer Definition im weiteren Sinne („Ein Leser ist eine lesende Person“), die wir links liegen lassen, und mit einer Definition im engeren Sinne, die mit dem Satz beginnt: „Ein Leser ist eine lesende Person“, dann aber fortgeführt wird mit folgenden Worten:

Der Leser taucht ab in fremde Welten und erlebt die Schicksale der Protagonisten hautnah. Während des Lesens wird seine Realität unscharf, sie verschwimmt und wird schließlich ganz und gar unsichtbar. Was bleibt ist die Fiktion, in die der Leser weiterlebt. In seiner Fantasie durchwandert er fremde Welten, er verwandelt sich in Elfen, Zombies, Vampire und Ritter. Gemeinsam mit Kapitän Ahab jagt er den weißen Wal Moby Dick, wartet mit Harry am Gleis 9 ¾ auf den Zug nach Hogwart und liest mit Holly die 12 Briefe, die Jerry ihr nach seinem Tod hinterlassen hat. Er kämpft sich mit Sam und Frodo durch zum Schicksalsberg, um den Ring der Macht für immer zu zerstören, begibt sich mit Robert Langdon auf die Spur der großen Geheimbünde und deckt gemeinsam mit Kurt Wallander in Südschweden Verbrechen auf. Der Leser ist immer mittendrin. Ein typisches Merkmal des Lesers ist die Unfähigkeit, während des Lesevorgangs die Fiktion von der Realität zu trennen. Zwar ist er meist geübt genug, sich beim Zuklappen des Buches nichts anmerken zu lassen und wieder in der Realität weiterzuleben, doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Womit wir bei Nummer Eins der Symptome wären, an denen ein unbedarfter Laie einen Leser erkennen kann: Eine leicht gestörte Wahrnehmung in Bezug auf Realität und Fiktion.

Nummer zwei: Das stete Verlangen nach neuen Büchern.

Durch die gut verzweigten Vertriebswege innerhalb des Buchhandels und die vielen zusätzlichen Möglichkeiten, die sich Lesern bieten, können nahezu immer und überall Bücher gekauft oder besorgt werden – sei es beim Bummeln in der Stadt, auf Flohmärkten oder Tauschbörsen, von zu Hause aus in Online-Shops, bei Lagerverkäufen und Bücherbasaren, in Stadtbibliotheken oder unterwegs mit dem Handy. Gelegenheiten gibt es viele. Und das ist auch nötig, denn der Leser hat das stetige Bedürfnis nach neuem Lesestoff. Und seien wir mal ehrlich: Wann braucht man kein neues Buch? 

Nummer drei: Die Pedanterie

Ein weiteres Merkmal ist die ausgeprägte Pedanterie, wenn es um die eigenen Bücherregale geht. Bücher erhalten ihren Platz im Regal nicht einfach so, oder gar zufällig. Hinter jeder, noch so wahllos scheinenden Sortierung steckt ein raffiniertes Ordnungssystem, das verschiedenste Eigenschaften eines Titels zur Grundlage haben kann. Diese können sein: Autor, Sprache, Thema, Genre, Titel, Verlag, Einbandart, Favoriten, Reihe, Größe oder Farbe (Anmerkung der Redaktion: Die Liste ist nicht vollständig). Einem unkundigen Außenstehenden mögen die ausgeklügelten Sortierverfahren zwar verborgen bleiben, der geübte Leser jedoch entdeckt jedes falsch einsortierte Buch auf Anhieb, und sei es aus dem Augenwinkel heraus. Es brennt sich in seine Netzhaut und löst in ihm eine nervenzerreibende Unruhe aus, die nur durch das Richtigstellen des Titels beseitigt werden kann. 

Nummer vier: Das SuB-Syndrom

Fast alle Leser erkranken über kurz oder lang am sogenannten SuB-Syndrom. Immer wieder passiert es, dass ein Leser von seinem Buch abgelenkt wird – von anderen Büchern. Und diese dann vorzieht. Die ungelesenen oder abgebrochenen Bücher stapelt er auf einem Haufen, von dem er meint, ihn anschließend durch konsequentes Lesen wieder abbauen zu können. In den meisten Fällen entwickelt sich diese Angewohnheit zu einem Teufelskreis, aus dem der Leidtragene ohne fremde Hilfe nur selten ausbrechen kann.

Da es aber Leser sind, und ganz bestimmt keine Messis, sprechen Betroffene nicht von einem Sammelwahn, sondern von einem SuB – einem Stapel ungelesener Bücher – der angelegt, gehegt und gepflegt wird. Teilweise lässt sich sogar ein gewisser Stolz erkennen, wenn Leser die Anzahl der auf dem SuB liegenden Titel miteinander vergleichen. Daran kann man erkennen, wie ausgeprägt das Syndrom beim Leser ist.

Nummer fünf: Das Mitteilungsbedürfnis

Viele Leser leiden unter einem erhöhten Mitteilungsbedürfnis. Das Lesen von Büchern löst ihn ihnen das schier übermächtige Verlangen aus, sich mit Gleichgesinnten über die gelesene Geschichte zu sprechen. Dies kann auf unterschiedliche Arten geschehen: im direkten Kontakt (persönlich, am Telefon oder per E-Mail) oder auch häufig auf diversen Seiten im Internet. Dazu werden in der Regel Blogs, Foren oder sogenannte Buchcommunities genutzt. Letztere weisen Ähnlichkeiten mit Plattformen für Selbsthilfegruppierungen auf, auf denen sich Betroffene über ihre Symptome und persönlichen Belange austauschen. Hier ist Raum, um all das zu thematisieren, was das eigene Leben prägt: Bücher und das Leben mit ihnen. Titel werden bewertet und rezensiert, Buchempfehlungen ausgesprochen und neue Freundschaften geschlossen. Die Buchcommunity bietet Betroffenen den idealen Ort, um ihr Mitteilungsbedürfnis zu stillen.

Womit ich am Ende meiner Beweisführung angelangt bin: Wikipedia irrt. Der Leser ist bei Weitem nicht nur „eine lesende Person“.   

Autor des Artikels: +Maren Kahl

Kommentare

Patrick A. Geberth kommentierte am 24. Juli 2013 um 08:05

Sehr schöner Artikel, v.a. der Abschnitt des SuB-Syndroms und Pedanterie. Meine Bücher ordne ich übrigens wie Rob Gordon aus "High Fidelity" seine Platten, nämlich am liebsten so, dass sich niemand anderes zurechtfindet. Und in unregelmäßigen Abständen wird dann auch noch komplett umgeräumt :)

Sebastian Kretzschmar kommentierte am 26. Juli 2013 um 22:57

Tolle Definition des lesenden Menschen. Der Leser ist also aber auch ein Bibliophiler. Denn Meister Umberto Eco lehrt uns: "Vom Sammler unterscheidet sich der Bibliophile dadurch, dass er nicht auf Vollständigkeit der Sammlung setzt, sondern auf deren Endlosigkeit."
;-)

Buechermaedchen kommentierte am 10. September 2013 um 14:19

Gefällt mir sehr gut. Da kann ich mich einfach 100% drin wiedererkennen :D

Zwischen den Zeilen kommentierte am 10. September 2013 um 20:55

Ein toller Artikel, auch ich habe mich in allen Punkten ertappt gefühlt.

Meine Bücher sind übrigens nach Kaufdatum sortiert ;)

antwortete am 09. Oktober 2013 um 10:11

Ein toller Bericht.

und es stimmt wirklich alles ;O)

übrigens....ich sortiere meine Bücher i.M. nach dem "hauptsache Platz im Regal" System. Muss ich irgendwann mal ändern, was heißt: neue Regale, ausmisten, ausbreiten etc.!

fio kommentierte am 30. Oktober 2013 um 09:48

Wunderbarer Artikel!!! Danke! :)

Kathrinsbooklove kommentierte am 03. Februar 2014 um 19:47

Alle Punkte stimmen bei mir und ich bin echt Stolz drauf! :)

 

Ich sortiere meine Bücher übrigens bei einer Buchreihe in der richtigen Reihenfolge,  ansonsten heißt es alle Favoriten so gut es geht nach vorne stellen. Leider ist die 1. Reihe ziemlich schnell voll :(  Ich denke, ihr versteht mich ;)

wandagreen kommentierte am 16. April 2016 um 10:15

Gut, dass ich diesen Artikel noch "gefunden" habe; er wurde wohl vor meiner wld-Zeit geschrieben. Sehr zum Schmunzeln.

hygge lady kommentierte am 13. September 2020 um 21:06

Hab den Artikel erst jetzt gelesen. Bin noch nicht lange Mitglied in der Community. Was list du find ich toll! Der Artikel ebenfalls! Maren Kahl: Du schreibst Lesern in diesem Artikel aus der Seele! Ich als Leserin habe mich wiedergefunden! Und Ich bin genau der Meinung! Ein Leser ist weit mehr als eine lesende Person! :)

kommentierte am 16. August 2023 um 14:08

test wadwad