Rezension

Wir brauchen Utopien

Alle_Zeit -

Alle_Zeit
von Teresa Bücker

Bewertet mit 5 Sternen

Mach-mit-Buch: das Private ist politisch.

Wir brauchen Utopien, sagt Teresa Bücker. Denn wenn man keine Utopien hat, hat man keine Träume und ohne politische Träume, verändert sich nichts. Und sie sagt auch, dass das Private politisch sei und sein müsse und … ach ja, sie sagt Vieles. Und alles ist lesenswert, wenn man die Zeit dazu hat, es zu lesen.
Zeitgerechtigkeit, Zeitverteilung, Zeitkultur, Zeitwahrnehmung, Zeitpolitik, Zeitknappheit, Begriffe, die mir um die Ohren wirbeln. Womit man sich alles beschäftigen kann, wenn man Zeit hat, haha. Scherz beiseite, die Autorin meint es ernst.

Man kann nur etwas verändern, wenn man sich zusammenschließt. So kann mein Leserbrief an Markus Lanz/ZDF, dass ich mir Geschlechterausgewogenheit bei seinen Gästen wünsche, die ja irgendwie auch meine Gäste sind, in meinem Wohnzimmer, nichts bewirken. Er wird gar nicht erst gelesen. Aber die Leserbriefe von euch allen! könnten es. Würden es. Wir müssen irgendwo anfangen. Warum nicht damit? Und wir wünschen uns nicht nur die Geschlechtergerechtigkeit bei Markus Lanz (und allen anderen politischen Talkshows), wir fordern sie geradezu. Das wäre Zeitausgleich! Diese Aufforderung, einen Leserbrief zur gerechten GesprächsZeitverteilung an das ZDF zu schreiben, speziell zunächst einmal zu Markus Lanz Talkshow (wir müssen unsere Kräfte bündeln), meine ich durchaus ernst. Ich habe schon. Die Hälfte der Gäste plus Eins muss weiblich sein. Plus eins, weil der Moderator männlich ist.

Zurück zum Buch: Teresa Bücker beklagt nicht nur das erwerbsarbeitszeitzentrierte Gesellschaftsmodell per se, sondern auch den Freizeitsbeschäftigungszwang durch Social Media.

„Social Media setzt unter Druck“. Denn das Ideal des Beschäftigtseins aus der Erwerbsarbeit schwappt in Social Media und das Freizeitverhalten hinein; nur wer etwas „macht“ und das ständig und abwechlungsreich (und dann darstellt), erreicht Status. Aber Beschäftigtsein als Statussymbol erzeugt gestresste Menschen. „Die ideale Freizeit erfüllt nicht mit Zufriedenheit, sondern sie erfüllt kulturelle Normen“. So sollte es nicht sein!

Carezeiten gehen in der Regel zu Lasten der Frauen. Dies wurde durch die Corona-Pandemie eindeutig demonstriert. Wir sind nicht so weit, wie wir gedacht haben, dass wir es wären. Schlagwort: Gender-Care-Gap. Und auch sonst: Männer müssen generell anfangen, weniger zu arbeiten und sich mehr an der CareArbeit beteiligen. Schließlich haben nicht nur Frauen Kinder und sind auch Männer Kinder (ihrer Eltern!). Denn erstaunlich und erschreckend ist es, dass Männer sich sogar in ihrer Freizeit viel mehr um sich selber kümmern können (Hobbies, Sport, Politik) als Frauen es tun können (Kinder, Pflege der Angehörigen, Haushalt). Männer, die durch Stress mit Herzinfarkt am Arbeitsplatz zusammenbrechen, sind übrigens uncool.

Erwerbsarbeit muss überhaupt anders gedacht werden, eigentlich Erwerbszeit. „Wenn wir den Fokus auf die Erwerbsarbeit legen, stärken wir die Maßstäbe, die auf männlichen und kapitalistischen Lebensentwürfen basieren und versäumen, eigene (andere) Ideen vom guten Leben zu entwickeln“, sagt die Autorin vom Feminismus und auch „Der Reichtum der oberen Einkommensgruppen wächst um ein Vielfaches schneller als der von mittleren und unteren Einkommensgruppen, ohne dass diese Menschen mehr oder härter dafür arbeiten würden.“ Und jeder sollte seinen eigenen Dreck wegräumen. Denn sich Zeit zu erkaufen durch die schlecht bezahlte Arbeit von Care- und Haushaltspersonal ist auch nichts anderes als Ausbeutung.

Der Kommentar:
Es geht um gesellschaftliches Umdenken. Wer sollte Zeit haben für Politik? Alle doch. Oder? Es geht um Macht, um Geld und um Werte. Fast alles, was Teresa Bücker sagt, unterstütze ich. Nur das Gendern in ihren Texten müsste nicht sein, weil es nicht nur ungewohnt ist, sondern das Lesen erschwert. Und die Zeit, die man braucht, um sich eine qualifizierte Ausbildung anzueignen, hat sie nicht mit berücksichtigt.

Gesellschaftliches Umdenken geht langsam, aber es ist nicht unmöglich. Es erfordert eine Lobby. Aber es ist keine Utopie. Wir könnten mit einem Leserbrief an Markus Lanz anfangen: wir fordern mehr öffentliche Gesprächszeit für Frauen. Eine Quote. Da Lanz schon ein Mann ist und unheimlich viel Redezeit selbst vereinnahmt, müssen mehr Frauen als Männer in die Runden kommen, damit ihre Stimmen mehr gehört werden als bisher, denn wer führt denn Kriege? Frauen nicht!

Fazit: Gesellschaftliches Umdenken ist möglich und wünschenswert. Wo fangen wir an? Auch kleine Schritte wie Leserbriefe können helfen.

Kategorie: Sachbuch. Gesellschaft. Feminismus.
Verlag: Ullstein, 2022