Rezension

Nah an der Realität

Die Arbeiter
von Martin Becker

Bewertet mit 4.5 Sternen

Das Titelbild mit den Strandbuden und der Frau im altmodischen Badeanzug und der Titel des Buches widersprechen sich auf den ersten Blick, aber die Auflösung des Rätsels gibt es im Laufe des Lesens.

Martin Becker ist als Sohn eines Schmiedearbeiteres in Plettenberg im Sauerland aufgewachsen, die Familienverhältnisse würde man heute als prekär bezeichnen. Der einzige Lichtblick im Laufe des Jahres war die Fahrt mit dem klapprigen Auto an die Nordsee, aufgeladen mit Ritualen und eine kleine Flucht aus dem schweren Arbeitsalltag, in dem sonst nur die Flucht in Alkohol und Zigaretten blieb.

Martin Becker beschreibt den Alltag seiner Familie einerseits sachlich, lässt aber auch immer wieder seine Zuneigung zu seiner verqueren Familie durchschimmern. Er muss mit Lisbeth, der behinderten Adoptivtochter, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter kämpfen und greift dabei auch zu unfairen Mitteln. Dabei bleibt Kristof, der andere Sohn, auf der Strecke, bleibt sein Leben lang der Brave, der für die kranken Eltern sorgt, während Martin in die Welt hinaus zieht und sich trotz seines Heimwehs selten blicken lässt. Ein weiteres Kind, Ute, ist kurz nach der Geburt gestorben, aber Becker lässt sie fiktiv weiterleben. Erst als die Eltern und Lisbeth schwer erkranken, stellt sich so etwas wie Nähe ein, aber Vieles bleibt ungesagt und viele Fragen unbeantwortet.

Beckers Buch hat bei mir viele Erinnerungen an meine eigene Kindheit geweckt. Er setzt damit allen Familien ein Denkmal, die es nicht in die Literatur geschafft haben, die am Rande der Gesellschaft fast unbemerkt für das Funktionieren zuständig waren und die es heute kaum noch gibt. Niemand von ihnen bekam das Bundesverdienstkreuz, niemand wurde Ehrenbürger, doch ohne sie wäre die Gesellschaft zusammengebrochen. Unsentimantal und realistisch findet Becker klare Worte für diese Menschen, die sonst unbeachtet geblieben sind. Mich hat das Buch sehr berührt.