Rezension

wenn alle mehr übereinander als miteinander reden....

Die englische Scheidung -

Die englische Scheidung
von Margaret Kennedy

Bewertet mit 5 Sternen

Alec und Betsy gehören in den 1930er Jahren der gehobenen englischen Mittelschicht an. Sie sind seit 17 Jahren verheiratet und der Ehealltag fordert seinen Tribut. Alec hat eine Affäre, Betsy ist unglücklich, hadert mit ihrem Leben und möchte sich scheiden lassen. Alles sieht nach einer einvernehmlichen Trennung aus, bis Mutter und Schwiegermutter sich einmischen, um die Ehe zu retten. Nun entwickelt sich eine Dynamik, die sich nicht mehr aufhalten lässt und ungeahnte Folgen hat…
Mit „Die englische Scheidung“ erscheint der Roman „Together and apart“ von Margaret Kennedy aus dem Jahr 1936 in deutscher Übersetzung. Er zeichnet ein interessantes und detailliertes Bild der gehobenen englischen Gesellschaft der damaligen Zeit. Die einzelnen Charaktere, allen voran Alec und Betsy, werden lebendig und ambivalent beschrieben, mit all ihren Eigenheiten, Stärken und Fehlern. Margaret Kennedys Gespür für Menschen und die Komplexität von Beziehungen hat mir besonders gut gefallen. Sie verzichtet auf klare Schuldzuweisungen an Alec oder Betsy, vielmehr spielen viele verschiedene Parameter eine Rolle, dass Beziehungen scheitern oder sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Mit spitzer Feder zeigt sie auf, welche Entwicklung die Einmischungen von außen in Gang setzen. Verwandte, Freunde, Bekannte und Angestellte tragen dazu bei, dass eine Lawine ins Rollen kommt, die Alec, Betsy und ihre Kinder förmlich mitreißt. Jeder kennt nur einen Teil der Wahrheit, schmückt den Rest aus, oft begleitet von einem wohligen Schauer der Sensationslust, und indem vor allem übereinander und nicht miteinander geredet wird, wird die Lage immer verfahrener.
Auch wenn sich in beinahe einhundert Jahren gesellschaftlich und im Rollenverständnis der Geschlechter glücklicherweise einiges geändert hat, ist es doch sehr faszinierend, wie vieles bis heute erstaunlich aktuell ist. Betsy und Alec befinden sich beide in einer Midlife-Crisis, haben sich auseinandergelebt, und insbesondere Betsy verzweifelt an der Diskrepanz zwischen ihren Lebensträumen als junge Frau und dem Status Quo. Auch Alecs Suche nach seiner Rolle als Mann und Vater und die Unfähigkeit der beiden Ehepartner, miteinander zu kommunizieren, sich selbst kritisch zu reflektieren und einen Konsens zu erreichen, ist heute oftmals nicht anders. Und die Kinder sitzen zwischen den Stühlen oder werden zum Spielball im Kampf um die eigenen Interessen.
Ich habe den Roman binnen kürzester Zeit verschlungen und war schon fast traurig, als er zu Ende war. Zu gerne hätte ich nochmal 200 Seiten weitergelesen, um zu erfahren, wie es mit allen weitergeht.