Rezension

„Der Sinn des Lebens? So etwas fragt man nicht!“

Nach oben sinken -

Nach oben sinken
von Wilfried Meichtry

Die Erwachsenen sind seltsam, findet ein Junge, der in einem Walliser Bergdorf in den 1970er Jahren aufwächst. Er flüchtet sich in eine Phantasiewelt, sehr zum Unmut seiner Umgebung. Für Phantasten aller Art, auch aus dem Wallis.

Das Wallis in den 1970er Jahren. Ein Junge wächst in einem Bergdorf in einer Familie auf, in  dem keiner redet. Probleme werden totgeschwiegen oder höchstens bei der Beichte angesprochen. Die Frömmigkeit soll richten, was an Unfrommem passiert. Der Bub ist allerdings nicht nur mit einer lebhaften Phantasie ausgerüstet, sondern hat auch Augen im Kopf und Ohren, die mehr hören, als den Erwachsenen lieb ist. Denn es gibt Geheimnisse innerhalb der Familie. Zum Beispiel jenes über den verschwundenen Onkel Jean. Nicht einmal die Grossmutter, die doch sonst gerne Geschichten erzählt, redet über ihn.

Wilfried Meichtry führt uns Leser in ein einengendes Wallis. Hier scheint es jeder Erwachsene darauf anzulegen, den Kindern die Flügel zu stutzen. Sowohl in der Schule – wo der Bub für seine Aufsätze und Geschichten bestraft wird –, als auch von den lieben Verwandten. Je frömmer diese sind, umso unbarmherziger handeln sie. Den Frömmlern ist auch der Titel des Romans «gewidmet»: Frömmigkeit lässt den einen oder anderen, der scheinbar direkten Kontakt zu den himmlischen Heerscharen hat, menschlich ziemlich tief sinken. Und so sind es denn in diesem Roman vor allem die Klosterfrauen, die sich durch Grausamkeit und Bigotterie auszeichnen. Die Szene, wie die beiden Tanten aus dem Kloster am Familientisch sitzen und über ihre Anverwandten Gericht halten, nicht ohne sich den Bauch mit Kuchen vollzuschlagen, ist witzig und schauerlich zugleich. Meichtry gelingt es vor allem in der ersten Hällfte des Romans, den Leser mit solch skurrilen Szenen zum Lächeln zu bringen. Hier kommt einem doch das eine oder andere sehr bekannt vor. Nicht nur im Wallis gab es in den 70igern eine strenge soziale Kontrolle oder allgemeines Schweigen vorab zu sexuellen Eigenheiten, auch wurde den Kindern schnell beigebracht, worüber sie nicht zu reden und schon gar nicht zu schreiben hatten. Eine rege Phantasie war für Spinner, die es im Leben zu nichts bringen würden. Wer’s nicht kapierte, kassierte Maulschellen und Strafarbeiten. So ist denn der Beginn von Meichtrys Roman «Es ist kein Unglück, im Wallis geboren zu sein. Ein besonderes Glück ist es aber auch nicht» gewiss auf alle Gegenden in der Schweiz anzuwenden, seien sie nun katholisch geprägt oder nicht. Und Engstirnigkeit ist gleichfalls nichts Neues unter der Sonne.

Die Haupt-Romanfigur immerhin lässt nicht locker: Der Jugendliche stellt sich Fragen. Fragen zum Sinn des Lebens. Und er fragt auch die Pfarrhaushälterin Bellwald. Da ist sie wieder die allgegenwärtige Antwort: „Der Sinn des Lebens? So etwas fragt man nicht!“ Der Junge will trotzdem wissen, was es mit dem verschwundenen Onkel auf sich hat und findet es am Ende auch heraus. Es ist allerdings nicht die Heldengeschichte, die er sich ausgemalt hat, nämlich von einem der auszog um die Enge des Tals hinter sich zu lassen. 

Wilfried Meichtry hat in diesen Roman einen Gutteil seiner eigenen Geschichte hineingepackt, seinen Heimatort Leuk und bestimmte Eigenheiten seiner Landsleute und ihr Verhältnis zu Politik und Talschaft. Für mich ist dieses Buch aber vor allem eine Liebeserklärung an alle Phantasten und weltoffenen Geister, die sich die Bahnen ihres Lebens nicht vorschreiben lassen und für ihre Träume kämpfen. 

Titel: Nach oben sinken, Roman

Autor: Wilfried Meichtry

Verlag:  Nagel und Kimche, 2023

ISBN 978-3-312-01285-5 , SFr. 33.90/ 22.– €