Rezension

Warum totalitäre Systeme stärker auf die Gesundheit von Frauen u Kindern achten sollten

Eva -

Eva
von Cat Bohannon

Bewertet mit 5 Sternen

Cat Bohannon blickt zurück bis auf das 1947 in Wales gefundene Säugetierweibchen „Morgie“ (z. B.  in Kielan-Jaworowska,  Cifelli  und Luo 2005), um die Entwicklung zum heutigen aufrechtgehenden weiblichen Menschen zu  erläutern, dessen Nachkommen in einer Gebärmutter heranwachsen, mit  Risiken für Mutter und Kind geboren werden, gestillt werden können und lange von einer Betreuungsperson abhängig bleiben.

Gegliedert nach weiblichem Körper, Sinnesorganen, Werkzeuggebrauch, Gehirn, Stimme, Menopause und  Partnerbeziehung stellt die amerikanische Wissenschaftlerin zahlreiche Verknüpfungen zwischen einzelnen Erkenntnissen her, die zwar im Prinzip bekannt sind, aber nicht im genannten Zusammenhang. So hat sich die Einschätzung, dass Stillzeiten das Brustkrebsrisiko verringern, durch Nichols et al (2019) offenbar verändert. Wer sich z. B. für Schwangerschaft, Geburt, Altern und Klimakterium interessiert, wird von den entsprechenden Kapiteln profitieren. Bohannon kommt dabei stets auf die Frage zurück, was Männer- und Frauenkörper unterscheidet, was die jeweilige Entwicklung zur Arterhaltung beiträgt und mit welchen Risiken für Mutter (Krebsrisiko) und Nachwuchs sie erkauft wird. Grundlage für genau diese Verknüpfungen ist Bohannons interdisziplinäre Arbeitsweise in mindesten drei Fachgebieten, die verblüffend an die Sicht feministischer Archäologinnen in  Bojs „Mütter Europas“ erinnert. Sehr positiv erlebe ich Bohannons Hinweise, dass in einigen Forschungsgebieten endgültige Bewertungen noch ausstehen, u. a. wenn die Auswahl der Probanden für Studien nicht repräsentativ gewesen ist. Ihr Buch enthält einige Beispiel für den White oder Male Bias, der ignoriert, dass Frauen, Schwarze, umso stärker natürlich schwarze Frauen und (erst neuerdings wahrgenommen) trans Personen von Forschenden ignoriert wurden.

Die nicht weniger faszinierenden weiteren Kapitel  behandeln  Muskulatur und Skelett von Frauen, Gehirntätigkeit und psychische Erkrankungen, das „Blooming and Pruning“ in der kindlichen Entwicklung, die Macht der Stimme,  nicht unbedingt neutrale Testverfahren uvm. Vom Kapitel „Mädchenzeit“ an wird das Werk explizit feministisch, wenn es um das Heranreifen jugendlicher Mädchen und gesellschaftlicher Reaktion drauf geht und später um die Rolle der postmenopausalen Großmutter für das Überleben der Art. Dass Großmütter entscheidenden Einfluss auf die Lebenserwartung von Kindern haben, ist zwar bekannt, aber  dass die Funktion der erfahrenen vertrauten  Hebamme und Wochenpflegerin so entscheidend ist, hatte ich mir vorher nicht ausgemalt. Immerhin wissen wir ja durch die Arbeit des Ehepaars Billings, dass natürliche Verhütungsmethoden, wenn sie ohne paternalistisches Gehabe oder eugenische Absichten gelehrt wird, in Entwicklungsländern zum Abstand von rund 3 Jahren zwischen Geburten genutzt wurde, die wiederum optimal für das Überleben von Mutter und Kind waren. 

Über unsere moderne Welt gibt es dagegen weniger Positives zu berichten. Cat Bohannon knallt konservativen Kreisen sehr direkt vor den Latz, dass  überall dort, wo in den USA Sexualerziehung sich traditionell auf den Appell zur Enthaltsamkeit beschränkt, Risikoschwangerschaften bei  sehr jugendlichen Müttern und sexuell übertragbare Krankheiten in wenigen Jahren dramatisch zugenommen haben. Ihr Fazit, dass patriarchalische Strukturen, die Frauen Kleidervorschriften machen, sie ins Haus verbannen, von schulischer Bildung und Entscheidung über die gewünschte Kinderzahl ausschließen, sich damit selbst ausrotten.  Eine Spezies in der Natur würde so nicht handeln, so die Autorin. Der Zusammenhang zwischen mangelhafter Sexualerziehung in der Kindheit, sexuell übertragbaren Krankheiten und  abnehmender Fruchtbarkeit hätte m. A. drastischer ausgedrückt und explizit an den Klerus gerichtet sein dürfen.

Das Handwerkliche

Mit lesefreundlichem Haupttext, Seitenüberschriften und zwei Arten von Anmerkungen lässt sich das Buch flüssig weglesen. Das sehr umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis im Anhang entspricht dem üblichen Standard. Die persönlichen Anmerkungen direkt auf der Seite (im Stil „Was ich zu dem Thema unbedingt noch sagen muss …) sind allerdings sehr klein gedruckt und kaum lesefreundlich, da häufig innerhalb des Anmerkungstexts umgeblättert werden muss.

Fazit

Ein aus persönlicher Perspektive  geschriebenes, interdisziplinäres Sachbuch, an dem ich mit Gewinn ungewöhnlich lange gelesen habe - einschließlich aller Anmerkungen.