Rezension

Über Kindheit in den 60ern und den unterschätzten Einfluss von Mentorinnen

Die Welt zwischen den Nachrichten -

Die Welt zwischen den Nachrichten
von Judith Kuckart

Bewertet mit 5 Sternen

Im rosa Haus, einer ehemaligen Fabrikantenvilla, wohnten in den 50ern und 60ern mehrere Familien in jeweils 1  bis 2 Zimmern, die sich Küche und Toilette teilten. Telefoniert wurde aus einer Zelle an der Straße. Die Bewohner solcher Übergangslösungen waren Familien, alleinerziehende, berufstätige Mütter, aber auch Frauen wie die Lehrerin Eva K., die als Single lebte, weil sie in einer offen lesbischen Beziehung ihre Stelle im Öffentlichen Dienst gefährdet hätte. Hier wächst mit Eltern und Großmutter Elizabeth die Icherzählerin Judith auf; der verstorbene Großvater war „staatenloser Scherenschleifer“. In Judiths Kindheit wurde von Fremden noch ausdrücklich darauf hingewiesen, Judith sei doch ein jüdischer Vorname. Erst in den 60ern werden sich Judiths Zeitgenossen aus Verhältnissen emporarbeiten, in denen ihnen Wege nur deshalb  verschlossen waren, weil sie sich die erforderliche Kleidung (Sport) nicht leisten konnten.

Durch ihre Kindersitterin, die Apothekertochter Ina, begegnet Judith Lebensverhältnissen, in denen das deutsche Wirtschaftswunder bereits zu spüren war. Judiths 1933 geborener Vater nimmt die Welle des Aufstiegs mit, zunächst als Waschmaschinenhändler, später geht er mitsamt seinem Verkaufstalent in die Politik. Judith Kuckart passt in Nachrichten jener Zeit (Ermordung John F. Kennedys, Attentat auf Rudi Dutschke, Mord an Benno Ohnesorg, RAF-Terrorismus) Erinnerungen ihrer Icherzählerin, die durch markante Schwarz-Weiß-Fotos untermauert werden. Dass Kinder der 50er und 60er nicht unbedingt gelernt hatten, Nachrichten (und deren Auswirkungen auf das eigene Leben), selbst zu beurteilen, wird hier deutlich. Später wird Judith Nachrichten darauf scannen, ob sie über den Verbleib von Ina berichten (die sich in den 60ern „politisierte“) und von Fritz, der später als Häftling gegen einen entführten Politiker ausgetauscht werden wird. Vor diesem Hintergrund wagt die Icherzählerin zunächst Umzüge nach Paris und Rom für eine Karriere als Tänzerin und wird als Autorin bekannt, seit früher Kindheit unterstützt und gefördert von Eva K.

Fazit

In der autofiktionalen Verschachtelung eigener und kollektiver Erinnerungen der Icherzählerin hat mich besonders ihre Mentorin Eva K. beeindruckt.  Sie steht für mich stellvertretend für Tanten, ledige Nachbarinnen und jene Lehrerinnen, deren Einfluss die Geförderten zunächst unterschätzten.