Rezension

Wenn die Fassade zerbricht ...

Morgentau -

Morgentau
von Svenja Mann

Bewertet mit 5 Sternen

„...Meine Wohnung ist nach und nach zu einem perfekten Abbild meines Seelenlebens geworden: kahl, leer und alles Schmerzhafte liegt hinter einer stets verschlossenen Tür verborgen...“

 

So charakterisiert Kathi ihr Leben. Wie ist sie zu dem geworden, was sie nun ist?

Die Autorin hat einen bewegenden Familienroman geschrieben. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen. Der Schriftstil ist gut ausgearbeitet. Er setzt auf innere Spannung und verrät erst nach und nach, was hinter verschlossenen Türen passiert ist. Gleichzeitig gibt es kurze Rückblenden, die an freudige Szenen, mehr aber noch an schmerzhafte Momente erinnern.

 

„...Knapp 10 Jahre ist es her, seit ich Anna das letzte Mal gesehen oder ein Wort mit ihr gesprochen habe...“

 

Genau das ist ein entscheidender Knackpunkt in Kathis Leben. Anna, ihre älter Schwester, die sie verteidigt und beschützt hat, ist nach dem Abitur nach Australien gegangen. Keiner ahnte, dass sie nicht zurückkehren würde. Kathi fühlte sich in Stich gelassen. Jetzt gab es keinen Schutz mehr vor den Anwürfen des Vaters.

 

„...Als Kind war ich zu pummelig, als Teenager zu dünn, als erwachsene Frau zu muskulös und männlich...“

 

Kathi bricht jede Verbindung zur Schwester ab. Sie beantwortet keinen der Briefe, ja liest sie nicht einmal. Auch ihre Eltern besucht sie selten. Die Atmosphäre dort bringt das folgende Zitat perfekt zum Ausdruck.

 

„...Mein Vater schläft noch und so lange steht die Welt in diesem Haus still. Der Herr im Haus darf unter keinen Umständen gestört werden...“

 

Felix, ein Nachzügler der Familie, bittet Kathi, wenigstens das Weihnachtsfest mit der Familie zu verleben. Und da steht Anna plötzlich vor der Tür. Kathi reagiert kratzbürstig. Sie weicht jedem Gespräch aus. Dann aber muss die Mutter in Krankenhaus. Jetzt eskaliert die Situation.

 

„...Wissen ist Macht. Aber Unwissen ist ein verführerisch warmer Mantel in einer eisigen Winternacht...“

 

Plötzlich stellt Kathi fest, dass sie nie hinter den Spiegel der Familie geschaut hat. Sie fühlte sich verletzt und missachtet und hatte keinen Blick für die Probleme der anderen. Anna redet Klartext. Dazu gehört auch, dass sie ihre wahren Gründe für die Ausreise offenlegt. Es war eine Flucht, denn sie hatte schon als Jugendliche begriffen, wie ihre Familie funktionierte oder besser gesagt, nicht funktionierte.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es erlaubt den Blick auf eine gutbürgerliche Familie, in der der Herr des Hauses bestimmt, wo es lang geht. Jeder reagiert anders darauf. Wer sich nicht beugt, bekommt das zu spüren.