Rezension

Ermittlungen mit dem Kursbuch in der Hand, Klassiker von 1958

Tokio Express -

Tokio Express
von Seicho Matsumoto

Bewertet mit 5 Sternen

Tatsuo Yasuda arbeitet als Werkzeughändler und  führt seine Geschäftspartner regelmäßig ins Koyuki in Tokio aus. Die Identität seiner Gäste bleibt hier vertraulich. Zu seiner langjährigen Stammserviererin Toki/Hideko hat er ein sachliches Verhältnis, Toki wiederum spricht mit Kolleginnen nicht über Privates. Als am Strand der Bucht von Hakata ein Paar auffällig arrangiert tot aufgefunden wird, tippen Polizei und Polizeiarzt zunächst auf gemeinschaftlichen Selbstmord. Zur Unterstützung der Ermittlungen reist aus Fukuoka-Stadt der erfahrene Ermittler Mihara an. Der tote Mann ist der junge Beamte Sayama; die Frau ist Toki, die eine Woche zuvor noch von ihren Kolleginnen mit einem fremden Mann in einem wartenden Zug  gesehen worden war. Sayama war beruflich mit dem Bestechungsskandal befasst, der aktuell die Schlagzeilen füllt. Die Ermittler, auffallend auf die Wahrung von Hierarchien bedacht, fragen sich, was Sayama am Fundort wollte und in welcher Beziehung er zu einer einfachen Serviererin stand, die seine Familie sicher als unpassende Verbindung abgelehnt hätte.

Ein Ermittler allerdings gibt nichts darauf, was andere von ihm denken. Herr Torigai, ein alter Hase in seinem Beruf,  trägt einen abgetragenen Anzug, hält sich offenbar oft in der frischen Luft auf und findet die Ideen seiner Kollegen wichtiger als Unterwürfigkeit. Die Ermittlungen konzentrieren sich schon bald darauf, mit welchen Zügen Sayama unterwegs war  und ob er und Toki evtl. nicht das einzige Paar am malerischen Strand  der Kashii-Küste gewesen sein können. Torigai und Mihara lässt beide der Fall nicht los. Die Kunst ein Kursbuch zu lesen, bringt sie schließlich der Lösung auf die Spur. Die Aufklärung für Matsumotos Lesepublikum erfolgt am Ende durch einen Austausch per Brief zwischen den ungleichen Männern.

Seichō Matsumotos Krimi-Klassiker spielt in den 50er Jahren. Man telefonierte damals von  Festnetzapparaten, die sich gerade anboten (z. B. vom Restaurant aus), verschickte Telegramme zur Zeugenbefragung und wechselte mit Kollegen Briefe. Gefallen hat mir die Stimmung, die durch das Verhältnis zwischen Berufstätigen und ihren Stammkunden besteht und die die Beteiligten zu  hilfreichen Zeugen macht; ob es Toki und ihre Gäste sind, Yasuda und seine Kunden, der Ticketkontrolleur auf seiner Stammstrecke oder der Hotelier und seine Gäste. Durch die Ermittlungen im Eisenbahnmilieu  ist mir deutlich geworden, was Leser:innen an Eisenbahn-Krimis fasziniert – die japanische Bahn als Milieu ist offenbar besonders geeignet. Auffallend ist das niedrige Ansehen von Frauen: Torigais Frau hat natürlich rechtzeitig das Feuer unter dem Badebottich geschürt, ehe er nachhause kommt, und bedient ihn bei Tisch.

Die Konstruktion des Falls und die geringe Seitenzahl des Klassikers lassen an produktive Autoren wie Simenon und Christie denken. Präzise in den Details und stimmungsvoll in den Beschreibungen, lässt Matsumoto bereits sein Interesse an sozialen und politischen Themen durchblicken. Dass seine Platzierung eines möglichen Selbstmords an eine idyllische Küste zur Romantisierung des Suizids in Japan beigetragen haben könnte, wird ihm allerdings rückblickend vorgeworfen. Seichō Matsumoto ist auf jeden Fall eine Wiederentdeckung wert.

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Die Ausgaben

1958 jap. Original, 1971 jap. Neuauflage als Gesamtausgabe

1958 dt: Spiel mit dem Fahrplan, vermutlich bei Volk und Welt, 1987 Spiel mit dem Fahrplan, als Fischer-TB, 9783596282302