Rezension

Ritterin ohne Furcht und Tadel

Igraine Ohnefurcht - Cornelia Funke

Igraine Ohnefurcht
von Cornelia Funke

Bewertet mit 5 Sternen

Dass Jungen in einem bestimmten Alter sich sehr für Ritter interessieren und in ihrer Phantasie so manche heldenhaften Kämpfe ausfechten und an Turnieren teilnehmen, aus denen sie selbstverständlich als Sieger hervorgehen, ist heute noch genau so wahr wie zu der Zeit, als Ritterromane in Mode kamen! Eine männliche Domäne, möchte man meinen, oder doch nicht? Cornelia Funke jedenfalls hat in ihrem 1998 erschienenen, von ihr selbst – gelungen, muss man hinzufügen – illustrierten Fantasyroman die Ritterträume in den Kopf eines 12jährigen Mädchens verpflanzt – Igraine! Sie lebt mit ihrem Bruder Albert und ihren Eltern, der schönen Melisande und Sir Lamorak, auf Burg Bibernell. Alle vier sind einander von Herzen zugetan, gehen so liebevoll wie respektvoll miteinander um, scheinen alles in allem eine normale, ganz alltägliche Familie zu sein, und in den Kabbeleien zwischen Igraine und Bruder Albert können sich gewiss viele junge Leser wiederfinden. Was sie allerdings von deren Familien unterscheidet, ist die klitzekleine Tatsache, dass Igraines Eltern meisterhafte Zauberer sind und dass Albert ihnen mit leidenschaftlichem Interesse nacheifert (auch wenn es ihm einfach nicht gelingen möchte, vernünftiges Essen herbeizuzaubern!). Ganze Tage am Stück sind die Drei mit ihren Zauberbüchern beschäftigt, die, nebenbei bemerkt, ein ganz eigenes Leben haben, die oft übellaunig sind, maulen, dann wieder singen, sich ganz ihrer Bedeutung für die Zauberkünste der Bewohner von Bibernell bewusst!

Und Igraine? Die langweilt sich derweil, wenn sie nicht gerade der Nachbarburg Düsterfels einen Besuch abstattet, dort verbotenerweise das Pferd der Besitzerin reitet oder zu Hause in Bibernell ihre freundlichen Schlangen füttert, die den Burggraben bevölkern. Wie sehnt sie sich danach, in die Fußstapfen ihres Vorbildes, des Urgroßvater Pelleas, zu treten! Der nämlich war ein mutiger Ritter und hatte in Turnieren gekämpft. Zaubern? So wie das die Eltern und der Bruder tun? Das ist nichts für sie!

Und wirklich – ihre Chance, die eigene Kühnheit, von der sie reichlich besitzt, unter Beweis zu stellen, kommt bald. Die schöne Melisande macht beim Zaubern des Geburtstagsgeschenkes für die Tochter einen Fehler und verwandelt sich und Ehemann Sir Lamorak in – Schweine! Äußerst liebenswerte Schweine, nebenbei gesagt. Aber was hilft das, wenn sie als solche nun nicht mehr zaubern können? Ein Gegenmittel muss her, und dafür brauchen sie dringend die Haare eines Riesen. Igraine bietet sich an, die Reise ins Land ebendieser Riesen anzutreten und die Zutaten für das Zaubermittel zu beschaffen, doch muss sie sich sputen, denn Finsteres braut sich drüben auf Burg Düsterfels zusammen! Dort hat sich inzwischen der Möchtegern-Zauberer Osmond (in den ersten Auflagen unter dem Namen Gilgalad bekannt) mit seinem noch düstereren Stachligen Ritter eingenistet und ist nun im Begriff, auch Bibernell einzunehmen, um endlich, endlich in den Besitz der launischen magischen Bücher zu gelangen, die ihn zum größten Zauberer aller Zeiten machen sollen.

Albert ist nun derjenige, der während Igraines Abwesenheit Bibernell verteidigen muss, das zum Glück mit vielen magischen Zaubern geschützt ist, die nicht so leicht zu überwinden sind. Als Igraine dann schließlich zurückkehrt, ist die Burg kaum noch zu halten. Doch kommt sie nicht alleine, sondern hat den Traurigen Ritter mitgebracht, der ihr vom Riesen als Begleiter und Beschützer zur Seite gestellt worden ist. Und dieser edle und tugendhafte Mann, ein wahrer Ritter vom Scheitel bis zur Sohle, bewährt sich ebenso wie sein Schützling, der ob seiner Tapferkeit und List im Kampf gegen Osmond und den Stachligen Ritter gar zu seinem Knappen aufsteigt.

Nach so spannenden wie erheiternden und unvorhergesehenen Entwicklungen und nicht zuletzt der Rückverwandlung der Eltern endet die Geschichte, ein herrliches Abenteuer, das voller Action ist und vor witzigen Einfällen geradezu funkelt, die aber gleichzeitig auch Anlass zum Nachdenken bietet, so wie sie enden muss – mit dem Sieg des Guten über das Böse. Und Igraine hat ein neues Vorbild, den Traurigen Ritter, der unterstützt von dem ungewöhnlichen Mädchen mit dem starken Charakter seinen eigenen Kampf kämpft und zum Schluss auch wieder lachen kann!

„Igraine Ohnefurcht“, direkt nach „Drachenreiter“ geschrieben, ist ein weiteres Buch der längst international bekannten deutschen Schriftstellerin mit ehemaligem Wohnsitz an der Westküste in den Vereinigten Staaten, jetzt aber beheimatet in der Toskana, Cornelia Funke, das die Leser, die ganz jungen ebenso wie die älteren, sofort in seinen Bann zieht. Staunenswert die anscheinend unerschöpfliche Phantasie der Autorin, die darüberhinaus auch noch fesselnd zu schreiben versteht, deren gewandter Stil und differenzierte Sprache, die sich niemals unflätiger Ausdrücke bedient, auch den anspruchsvollsten Leser über die Maßen erfreut.

Mit Igraine hat sie eine nicht alltägliche Hauptfigur geschaffen, eine, die nicht nur überkommene Rollenbilder aufweicht, sondern auch noch uneingeschränkt sympathisch ist; sie vereinigt so viele positive Attribute in sich und bleibt dabei so herrlich normal und völlig unprätentiös, so dass sie eine sehr taugliche Identifikationsfigur abgibt, ein Vorbild, von dem es gar nicht genug geben kann. Zum Glück für die Leser ist die Autorin nicht bei ihrer ursprünglichen Absicht geblieben, Igraines Geschichte nicht länger als 60 Seiten werden zu lassen, denn, so Funke selbst, die Geschichte verselbständigte sich und wollte einfach kein Ende nehmen, weil eine Situation die andere ergab und ein Einfall auf den nächsten folgte.

Dass die Autorin selber großen Spaß beim Schreiben dieses Buches hatte, ist aus jeder Zeile spürbar – und diese Begeisterung überträgt sich unmittelbar auch auf den Leser. Genau so müssen wirklich gute Kinder- und Jugendbücher sein, so eben wie „Igraine Ohnefurcht“, die einen prominenten Platz auf jedem Bücherregal haben sollte!