Rezension

Rücksichtslosigkeit gegenüber einer Behinderten - und eine Mutter, die loslassen muss

Brief an mein Kind -

Brief an mein Kind
von Ada D'Adamo

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ada d’Adamo bringt 2005 ihre schwer mehrfach behinderte Tochter Daria zur Welt. Dass ihr betreuender Gynäkologe HPE (Holoprosenzephalie) nicht vermutete und seine Patientin nicht informierte, ist umso schwerer vorstellbar, als  Adas Freundin Francesca kurz zuvor ebenfalls diese Diagnose erhielt und die Schwangerschaft abbrechen ließ. Zwei Schwangerschaften mit  schwerer Missbildung des Gehirns, jeweils 1 Baby unter 10 000.  Ada d’Adamo lebt in einer komplizierten Fernbeziehung zu ihrem Partner und ist nun voller Schuldgefühle, da sie Familienbande kappte, als sie zur Ausbildung als Tänzerin aus der Region Neapel nach Rom ging. Das Leben mit einem behinderten Neugeborenen, das sich nur durch 24-stündigen Körperkontakt beruhigen lässt, konfrontiert die Eltern mit schwer vorstellbarer Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit durch Ärzte und Pflegepersonal. Zyniker könnten kommentieren, dass Paare wie Ada und ihr Partner in einer religiös geprägten Kultur zwar aus medizinischen Gründen keine Schwangerschaft abbrechen dürfen, dann jedoch zusehen sollen, wie sie in einer gleichgültigen Umgebung ihr Schicksal allein meistern.

Erst der Kontakt zu eine US-amerikanischen Elterngruppe verhilft ihnen zur Entdeckung  betroffener Eltern in Italien, mit denen sie sich endlich über die alltäglichen Kämpfe um Therapien,  Hilfsmittel und Betreuung austauschen können. Als ehemalige Tänzerin hat Ada d’Adamo einen besonderen Blick auf die Körperlichkeit der Behinderungen Darias. Sie selbst leidet zusätzlich unter  mangelnder Barriere-Freiheit in der Stadt und in Verkehrsmitteln,  Behinderungen, die ihr als Begleiterin aufgezwungen werden. Aus der Tänzerin Ada ist die Mutter von Daria geworden, die gefürchtete Hyäne, die für ihr Kind kämpft.

Als Ada d’Adamo unheilbar an Brustkrebs erkrankt, kappt ihre eigene Erkrankung das körperliche Band zu Daria, da sie ihre Tochter nicht mehr heben kann und darf. Von 2012 an entsteht ein tagebuchartiger Brief an Daria, der mehrfach aus der Gegenwart in Adas Jugend wechselt und mit liebevollen Nachrichten versehen ist, die Darias Klassenkameraden ihr geschrieben haben. In der Schule ist die nun 15-Jährige endlich nicht nur als Mensch mit Defiziten wahrgenommen worden.

Ada d’Adamo wird bis direkt vor ihrem Tod 2022 am "Brief an mein Kind" schreiben, eher eine Abrechnung mit einer rücksichtslosen Gesellschaft, dem italienischen  Gesundheitssystem und einer behaupteten Inklusion Behinderter, die eher eine löcherige Decke zu sein scheint. Bereits 2008 hatte die Autorin einen Hilfeschrei in den Medien veröffentlicht, wegen dem sie heftig angefeindet wurde.

Der eher kurze, chronologisch verfasste Text von 190 Seiten wirkt durch Rückblenden in Adas Jugend leicht sperrig, Inhaltlich finde ich die Fehldiagnose, die offenbar für den Mediziner keine Konsequenzen hatte, und die von Daras Eltern erlebte Rücksichtlosigkeit belastend, aber auch das anfänglich fehlende Netz für pflegende Familienangehörige. Wer Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischen Gründen ablehnt, sollte von der Lektüre absehen.