Ein Blick hinter die Kulissen walisischer Idylle
Bewertet mit 4.5 Sternen
Olwen (w) und Gethin (m) wachsen, getrennt von Klassenschranken, in Nordwales auf. Gethins Mutter Ffion (sein Vater ist unbekannt) muss jeden Job annehmen, der ihr angeboten wird, so dass sie auch die Verwaltung des leerstehenden gläsernen Architektenhauses Tŷ Gwydr samt See und Wald übernimmt, dessen Besitzer schon seit Jahren nicht mehr im Dorf gesehen wurden. Ihr Bruder reagiert entgeistert, wie sie „für diese Leute“ arbeiten kann. Er meint Großgrundbesitzer, die keine Waliser sind, keine Arbeitsplätze schaffen und für den Niedergang der Region verantwortlich sind. Als Jugendlicher beschafft Geth sich einen Zweitschlüssel zum Anwesen und genießt dort regelmäßig die unvergleichlich idyllische Aussicht. Geth, der schon in der Grundschule Walisisch so gut wie Englisch beherrscht, kennt als Lebensweise nur Armut. Als er in den 90ern Olwen Yates kennenlernt, deren Eltern im Dorf ein alternatives Leben als Künstler suchen, begreift er erst langsam, dass ihre Familie wenig Geld hat, aber nicht arm ist. Zunächst hält Geth sich den Yates-Kindern für überlegen; denn er ist hier verwurzelt und kennt jeden. Olwen besucht eine Privatschule und ihre Eltern wissen, wie man sich um Stipendien bewirbt. Sie wird den Ort verlassen, sich auch in der Fremde durchsetzen, und ihr Bruder Tal findet sich sowieso in jedem Milieu zurecht. Der circa 1980 geborene Geth dagegen entscheidet sich nach der Schule für einen Kettensägen-Lehrgang, um als Holzfäller zu arbeiten. In eine Rahmenhandlung der Gegenwart werden Ereignisse aus der Zeit antibritischen Protests der 70er bis 80er eingeblendet, die für Gethins Onkel Iestyn und seine Partnerin Angharad traumatisch war. Es war die Zeit, als ein ganzes Dorf für den Wasserspeicher einer Großstadt zerstört wurde, der Brandanschläge auf unbewohnte Landhäuser, der Attentatsdrohungen und von Polizeiwillkür, die die Protestbewegung befeuerte.
Als Jahre später nach dem Tod des Besitzers das „Glashaus“ zum Verkauf steht, scheint das für Geth das Ende seiner privaten Idylle am See zu sein. Gekauft wird das Anwesen von Olwens wohlhabendem Ehemann James, der ihre sorgenfreie Karriere als Regisseurin finanziert hatte. James kauft den Besitz, weil er es kann – und „Ol“ scheint damit zunächst nichts anfangen zu können. Immerhin nimmt sie wahr, dass der Dorfladen nur noch ehrenamtlich geführt wird. Während Olwen hier die Magie des Waldes, der Hexen und Füchse als Stoff für ihre Zwecke entdeckt, flammt ihre Teenagerliebe zu Gethin wieder auf. Die privilegierte Engländerin trifft den Waliser ohne Berufsausbildung, ohne sich der Brisanz alter Kränkungen im Dorf bewusst zu sein.
Fazit
Der Originaltitel „Glass Houses“ trifft die Beziehung zwischen Owen und Gethin und das Sozialgefüge eines walisischen Dorfes besser als der deutsche Titel und dessen Anspielung auf Liebe. Es geht auf politischer Ebene u. a. um die britische Klassengesellschaft, die Rolle von Großgrundbesitz für die Verödung ganzer Landstriche, Unabhängigkeitsforderungen, Respekt vor der walisischen Kultur; im Privatleben der Figuren um falsche Entscheidungen, Kränkungen, den Umgang von Dorfgemeinschaften mit Diversität. Vor außerordentlich atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen entfaltet Francesca Reece Sozialgeschichte einer idyllischen Region und deren Vermarktung. Ein berührender, durch walisische Eigennamen und Wechsel zwischen Zeitebenen, aber auch komplexer Roman.