Rezension

Der "andere" Salinger

Hebt an den Dachbalken, Zimmerleute und Seymour eine Einführung - J. D. Salinger

Hebt an den Dachbalken, Zimmerleute und Seymour eine Einführung
von J. D. Salinger

Mit "The Catcher in the Rye", "Der Fänger im Roggen" wurde Salinger weltberühmt; das Buch ist in vielen Schulen Pflichtlektüre. Darüber hinaus gibt es nur wenige Werke von ihm, die veröffentlicht wurden - vier Erzählungen und 35 Kurzgeschichten, von denen nur neun in einem Buch herausgegeben wurden. Viele dieser kürzeren Werke haben die Familie Glass als Protagonisten; so auch die beiden hier herausgegebenen Erzählungen. Die Hauptperson ist Seymour, der älteste Glass-Sohn, der Erzähler ist Buddy, der nächst jüngere Bruder. 

In "Hebt an den Dachbalken, Zimmerleute" wird ein heißer Sommertag in New York beschrieben, ein ganz besonderer Tag: Seymours Hochzeitstag. Unter einigen Schwierigkeiten kommt Buddy angereist und findet sich in einer großen Gesellschaft wieder. Doch der Bräutigam taucht nicht auf - er kann nicht kommen, denn er ist zu glücklich, um zu heiraten... Nun könnte man ihn für eine gestörte Persönlichkeit halten, und das tut die ganze Gesellschaft auch, allen voran die Brautmutter. Buddy weiß es besser, und der Leser ist auf seiner Seite - denn die Geschichte beginnt mit einer kleinen Szene, in der Seymour seiner Babyschwester eine taoistische Geschichte vorliest. Die wirft ein völlig anderes Licht auf die folgende Erzählung und auf Seymours Charakter.

In "Seymour - eine Einführung" möchte Buddy dem Leser seinen Bruder Seymour nahebringen, der einige Jahre vor der Niederschrift gestorben ist. Dieser Text von etwas über hundert Seiten mäandert vor sich hin, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, streift Kindheitserinnerungen, Beschreibungen des Äußeren, philosophische Betrachtungen, literarische Anspielungen und vieles mehr. Normalerweise bin ich ein Leser, der in einer Geschichte "einen Anfang, eine Mitte und ein Ende" schätzt, wie Salinger ironisch anmerkt. Diese Geschichte bietet das nicht; sie hat auch keine fortlaufende Handlung. Während ich sonst von solchen Erzählungen gelangweilt und wohl auch überfordert bin, geht es mir bei Salinger anders: Überfordert vermutlich auch hier, denn ich habe den Eindruck, dass ich längst nicht alle Anspielungen und tieferen Textebenen verstehe; dennoch faszinieren mich diese beiden Erzählungen. Nimmt man als dritten Text die Geschichte "A Perfect Day for Bananafish", "Ein herrlicher Tag für Bananen-Fisch" hinzu, in der Seymours Selbstmord geschildert wird, ergeben sich wiederum neue Facetten von Seymours Persönlichkeit. 

Die Charakterstudie eines faszinierenden Menschen; die geniale Beschreibung eines Menschen durch die Schilderung seiner Abwesenheit; philosophisch-religiöse Betrachtungen; eine Moral, die nicht mit erhobenem Zeigefinger verkündet wird: All das bietet Salinger in diesen beiden Erzählungen. Das kann man nicht mal so zwischendurch lesen, aber wenn man es liest, kann man etwas mitnehmen. Vorausgesetzt, man kann sich auf diesen ungewöhnlichen Stil einlassen - denn hier scheiden sich die Geister: Salinger wird als genialer Autor seines Romans anerkannt, doch seine Erzählungen und Kurzgeschichten werden entweder als weitschweifige, ausufernde Prosa ohne Hand und Fuß oder eben als originelle Meisterwerke angesehen.