Rezension

Der Schwarze Engel

In Almas Augen
von Daniel Woodrell

Bewertet mit 4 Sternen

»Es war ein drückend heißer Tag, dunkel von einem unheilvollen Sturm, der sich über uns zusammenbraute, und wir saßen auf ihrer kleinen Veranda im Wind, um dem lebhaften Geschehen am Himmel zuzuschauen. Grelle Blitze kerbten die Sturmwolken, Donner grollte. Almas Kleid flatterte, sie hatte die Augen zusammengekniffen, starrte in die Ferne und wählte listigerweise genau diese tosende Stunde, um mir zum ersten Mal von der Explosion in der Arbor Dance Hall zu berichten, bei der 1929 zweiundvierzig Tanzende aus diesem kleinen Nest in den Ozarks von Missouri ihr Leben verloren hatten, Walzer tanzende Paare, die mitten im Takt umgekommen und in einem rosafarbenen Nebel zum Himmel geweht waren, gejagt von turmhohen Flammen. … Dutzende Menschen wurden verstümmelt und verbrannt, bis ihnen die Haut vom Fleisch schmolz. Die Schreie aus den Trümmern und Flammen sollten in den Ohren jener, die sie hörten, nie wieder verklingen, Schreie von brennenden Nachbarn, Freunden, Geliebten und Verwandten – wie meiner Großtante Ruby. So viele junge Menschen starben oder wurden für ihre Leben gezeichnet, und sie alle kamen aus diesem Städtchen von nur viertausend Einwohnern. Das führte zu einem Schock, zu einem lauten Aufschrei nach Gerechtigkeit. Verdächtigungen wurden geäußert, Drohungen ausgesprochen, ein Mob scharte sich zusammen, aber für all die Wut gab es kein offenkundiges Ziel. Mögliche Erklärungen für die Explosion waren so zahlreich wie widersprüchlich und blieben ohne überzeugende Beweise, sodass sich die offiziellen Ermittlungen kraftlos und stockend in einem weiten Kreis drehten, um schließlich in aller Heimlichkeit eingestellt zu werden. Niemand wurde je angeklagt oder verurteilt, und die achtundzwanzig nicht identifizierbaren Toten wurden gemeinsam unter einem monumentalen Engel begraben, der drei Meter hoch war und im Laufe der Jahre von der Kälte, der Hitze und dem peitschen Regen langsam schwarz wurde.«

Mehr als vierzig Jahre nach dieser furchtbaren Nacht erzählt eine Großmutter ihrem Enkel davon, berichtet ihm die Wahrheit, so wie sie sie erlebt hat. Alma verlor bei dem Unglück ihre Schwester und glaubt auch zu wissen, wer für die Explosion verantwortlich war. Ihr Versuch, Nachforschungen anzustoßen, endete damit, dass sie ihre Arbeit verlor und immer mehr aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurde. Weitere Schicksalsschläge werden sie treffen und fast um den Verstand bringen. Sie wird sich mit ihrer Familie überwerfen und erst spät, ihrem Enkel gegenüber, ihr Schweigen wieder brechen.

 

Dieser Enkel ist der Erzähler der Geschichte und er berichtet nicht nur das, was er von seiner Großmutter Alma erfuhr. Schon sein Vater hat in wesentlichen Punkten eine andere Sicht der Dinge und beim Lesen tun sich noch diverse Möglichkeiten auf, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Nicht ohne Grund gab es von den Überlebenden und Trauernden die unterschiedlichsten Verdächtigungen!

Wie in einem Puzzle werden immer wieder neue Aspekte enthüllt, werden neue Personen eingeführt, die durchaus an dem Unglück beteiligt gewesen sein können. Ich ertappte mich dabei, mal den zu verdächtigen, dann den…

 

So zeichnet der Autor das Bild einer amerikanischen Kleinstadt mit all ihren Facetten und Vorurteilen, mit Menschen, die irgendwie versuchen, ihr Leben zu leben und manches Mal daran scheitern. Mit Geheimnissen, begangenen Fehlern und Ängsten. All das so lebendig beschrieben, dass man gerne dranbleibt bis am Ende – endlich – alle Fäden zusammenlaufen.

 

»1989 fing der Schwarze Engel, der über den nicht identifizierten Toten wachte, an zu tanzen. Leute, die Kränze ablegen wollten, sahen, wie der Engel ein wenig mit den Hüften wackelte, und riefen nach weiteren Augenzeugen; tatsächlich gab es bald etliche Beobachter des himmlischen Tanzes. Da informierte man die Zeitung. Der noch immer glänzende Grabstein, auf dem der Engel stand, war so hoch wie zwei Männer und voller Namen, die vor Jahrzehnten in den Marmor gehauen worden waren. Der Schwarze Engel stand dort oben und hielt eine Fackel in der Hand, wohl für den Fall, dass die Wahrheit in der Dunkelheit vorbeischleichen wollte. Auch die Flamme war inzwischen schwarz geworden.«