Rezension

Von Freundschaft und Vorurteilen - ein besonderes Buch

Sally Jones - Mord ohne Leiche - Jakob Wegelius

Sally Jones - Mord ohne Leiche
von Jakob Wegelius

Bewertet mit 4 Sternen

Die wenigen deutschsprachigen Rezensionen zu "Sally Jones - Mord ohne Leiche" vom schwedischen Autor Jakob Wegelius legen die Vermutung nahe, dass dieses preisgekrönte Werk es nicht ganz so leicht auf dem Markt hat. In meinen Augen handelt es sich auch eher um einen Geheimtipp für Liebhaber des Besonderen. Ab neun Jahren wird das 620 Seiten (!) starke Kinderbuch empfohlen, das sich in seiner melancholischen Ernsthaftigkeit mitunter wie ein Erwachsenenroman liest und Geduld und Aufmerksamkeit erfordert - die sich auszahlen.

"Sally Jones" ist ein echtes Ausnahmebuch und große Erzählkunst. Tatsächlich habe ich wohl nie ein eigenwilligeres und originelleres Kinderbuch gelesen. Eine Mischung aus Abenteuerroman, Detektivgeschichte und historischem Reisebericht, eingebettet in mannigfaltige Botschaften zum Thema Freundschaft. Allein die Hauptfigur ist einzigartig und imposant - eine Gorilladame namens Sally Jones, die zwar nicht sprechen kann, dafür aber ein Ass in handwerklichen Dingen ist. Um das Jahr 1900 herum verlieren Sally Jones und ihr Freund, der Seemann Henry Koskela, nach einer katastrophal-folgenschweren Nacht ihr Schiff und geraten noch dazu unter Mordverdacht. Ein Mann ist ins Meer gestürzt, seine Leiche aber verschollen. Koskela landet daraufhin im Gefängnis und Sally Jones ist auf sich alleine gestellt - sie muss erfahren, dass nicht alle es gut mir ihr meinen.

Die Handlung erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Jahren und gliedert sich in drei Teile. Der erste Abschnitt hat mir persönlich am besten gefallen, da der Autor hier tolle atmosphärische Bilder eines nostalgischen, portugiesischen Stadtlebens heraufbeschwört, die sich auch in einigenkunstvollen Schwarz-Weiß-Illustrationen wiederfinden. Ich bin völlig in dem Buch versunken und habe sehr mit Sally Jones mitgefiebert, die als Charakter die Berechtigung zum Kinderbuch ausmacht, da ihr Blick auf die Dinge unschuldig und aufmerksam, aber keineswegs naiv, ist. Die herzensgute Gorilladame weckt überwältigende Beschützerinstinkte, denn sie lässt junge Leser eindrücklich begreifen, wie entsetzlich es sich anfühlt, als andersartig wahrgenommen zu werden und dass Vorurteile nur allzu leicht in Ablehnung und Hass umschlagen können. Das liest sich dann leider genauso traurig, wie es klingt: In dem Buch gibt es viele fesselnde, aber auch einige sehr bedrückende Szenen, die eventuell Gesprächsbedarf nach sich ziehen. Für jüngere Kinder würde ich deshalb eine Lese-Begleitung durch die Eltern empfehlen.

Sally Jones wird angefeindet und verfolgt, findet aber schließlich in der jungen Arbeiterin und Fado-Sängerin Ana Molina sowie dem Instrumentenbauer Fidardo neue Vertraute. 200 Seiten lässt sich Wegelius allein für diese Entwicklung Zeit. Aufgrund des extrem entschleunigten Tempos könnte man annehmen, es würde gar nicht viel passieren, was nicht ganz richtig ist. Die einzelnen Kapitel bilden kurze, übersichtliche Etappen, die ständig wechselnde, kleinere Ereignisse beschreiben und erst nach einer Weile zu größeren Veränderungen führen. Der Ausdruck des Buches ist dabei glasklar, jedoch wird nahezu stoisch erzählt und genau hier liegt die Besonderheit, denn dies schafft eine kuriose Mischung aus Kurzweiligkeit und opulenten Sich-Zeit-Nehmens, durch die man sich einerseits unheimlich schnell zurecht findet und gleichzeitig alles als sehr intensiv erlebt.

Im zweiten Teil geht Sally Jones auf Reisen, um die Unschuld ihres Freundes Koskela zu beweisen. Sie gelangt ins alte Indien und es wird fast schon märchenhaft. Im dritten Teil endlich klären sich einige Dinge auf. Leider fällt die Intensität der Geschichte mit der Zeit etwas ab, da sich Motive wiederholen und die Auflösung des ominösen Mordfalles, die sich eigentlich schon vorher herauskristallisiert, zu sehr in die Länge gezogen wird. Gegen Ende hätte man wohl doch ein paar Seiten einsparen können.

Die Wortwahl ist übrigens teilweise recht anspruchsvoll. Zwangsläufig werden Kinder ihre Eltern hier mit Fragen bombardieren, und wer Erklärungen zu Begriffen wie Kielschwein, Konkubine, Fado, Alfama, Putschisten und Anarchisten nicht auf Knopfdruck kindgerecht aus dem Ärmel schütteln kann, der wird ein Glossar wohl mehrfach schmerzlich vermissen.

Fazit: Ein ebenso opulentes, wie intensives Kinderbuch, das sich der Schnelllebigkeit der Zeit entgegenstellt und fernab vom Mainstream etwas Neues probiert. Kunstvoll arrangiert, mit erlesenen Botschaften und einer sympathischen, ungewöhnlichen, sehr genau beobachtenden Erzählerin. Prädikat wertvoll! Auch für das wunderschöne Cover, ein echter Eyecatcher. Die Altersempfehlung würde ich allerdings etwas höher ansetzen.