Rezension

Kann man getrost vergessen.

Zerbricht der Westen? - Heinrich August Winkler

Zerbricht der Westen?
von Heinrich August Winkler

Bewertet mit 2 Sternen

Wer es geschafft hat, dem polit. Geschehen, v.a. deren Interpretation der Leitmedien zu entkommen, die durch alle großen überregionale Zeitungen und Fernsehen gegeistert hat, wenn man z.B. a lá Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel die letzten 5-7 Jahre verbracht hat, der könnte evtl. Nutzen aus diesem Buch ziehen.

So verlockend die Kapitelüberschriften und der Titel erscheinen, so fad und nichts Neues sagend präsentiert sich leider der Inhalt.

Der Anfang war so vielversprechend, aber nach und nach lösten sich die spannenden Ansätze im bloßen Nacherzählen der politischen Ereignisse der letzten 5-7 Jahre auf, die man als Tagesgeschehen zeitnah den Leitmedien entnehmen konnte.

Platituden und Allgemeinplätze, insb. in der zweiten Hälfte, statt spannender Analysen, Aufdeckung unterliegender Verhaltensmuster, die die Demokratie im Westen in schwere Krise gebracht haben und plausibler Vorschläge, wie man die Probleme lösen könnte, die ich hier eigentlich erwartet habe.

Selbst dort, wo es sein müsste, im Fazit, sucht man nach derartigen Inhalten vergeblich. Man bekommt lediglich die offizielle, für breite Massen vorbereitete Meinung, die man den größeren Zeitungen und ÖR-Sendern entnehmen konnte. Zudem wurde es so getan, als ob dort der Wahrheit letztes Wort stünde. Dass es dem nicht so ist, dass diese Art der Berichterstattung lediglich der fromme Wunsch ist, die breite Masse auf einen bestimmten Kurs zu bringen und bestimmte Ansichten in deren Köpfe zu pflanzen, weiß jeder kritisch denkender Leser. Konkrete Beispiele gibt es in Neuerscheinungen wie „Eiszeit“ von Gabriele Krone Schmalz, in „Ein Leben ist zu wenig“ von Gregor Gysi, etc.

Auch was die Beschreibung der Konflikte angeht, z.B. in Syrien, in der Ukraine, blieb der Autor bei offiziell genehmer Meinung, predigte gebetsmühlenartig von Krim-Annexion, dämonisierte Putins Russland, wie man es aus den Leitmedien gewohnt ist, verteufelte Trump &Co., von Erdogan und Assad ganz zu schweigen.  Ganz sicher war ihm z.B., dass es Assad war, der Giftgasangriff auf eigene Bevölkerung „… in einem von Rebellen kontrollierten Gebiet“ (sehr „präzise“ Angabe, muss man sagen) in 2013 verübte, S. 235. Auf welche Quelle sich diese Behauptung stützt, ließ Winkler im Ungewissen.  Ich kenne eine gute Quelle, die das Thema glaubwürdig darlegt, da steht es aber anders, s. „Die den Sturm ernten“ von Michael Lüders.

Auch an anderen Stellen fehlten die Quellenangaben, z.B. S. 175-176. Woher die Zahlen kommen, auf die der Autor seine Argumentation stützt? Oder geht es davon aus, dass man ihm aufs Wort glaubt?

Die Frage: Warum lese ich das eigentlich? Tauchte schon recht oft auf. Es ist Schnee von gestern, trocken und ohne wahrnehmbaren Mehrwert dargelegt noch dazu. Aber ich konnte/wollte nicht glauben, dass es tatsächlich schon alles sein wird. Da müsste doch noch das Eigentliche kommen, die Substanz, so meine Hoffnung. Leider war es nicht der Fall.

Winkler beschreibt die Ereignisse größtenteils neutral, mit paar Ausnahmen, s.o. Mir fehlte aber auf der gesamten Strecke das Denken in Zusammenhängen, die Hintergründe, die Frage, warum das eine oder andere geschehen ist und mögliche Interpretationen hierzu samt Vorschlägen, wie man die Situation entschärfen könnte. z.B.: Warum sah sich Putin gezwungen, in der Ukraine so vorzugehen? Vllt weil die Politik des Westens der letzten fünfzehn Jahre ihn dazu gebracht hat? Vllt wurden da die geopolitischen Interessen Russlands missachtet? Mehr dazu z.B. in „Eiszeit“ von Gabriele Krone Schmalz. Und was ist mit Syrien und angrenzenden sowie arabischen Ländern? Vllt war da einiges schiefgelaufen, da die Aggression vom Westen her ausging und man nun die Früchte dieser Politik präsentiert bekommt? Mehr dazu in „Schwarze Flaggen“ von Joby Warrick, „Die den Sturm ernten“ von Michael Lüders, „Nur wenn du allein kommst“ von Souad Mekhenet, ferner „Illegale Kriege“ von Daniel Ganser, uvm.

Aber nein, nichts dergleichen war den Ausführungen hier zu entnehmen.

Da klang es schon fast nostalgisch, dass die Zeitungen ihre Deutungshoheit zugunsten des Internets verloren haben. Warum? Fehlte wieder hier mal. Vllt weil die Menschen verstanden haben, dass sie dort hpts. indoktriniert werden und haben keine Lust mehr dazu, auch weil es mit dem Selbstverständnis einer funktionierenden Demokratie nicht vereinbar ist, wie Frau Krone Schmalz sehr treffend in „Eiszeit“ sagt, oder auch weil sie nicht mehr ein Teil der Volksverdummung mehr sein wollen, von der Michael Lüders in seinem o.g. Buch spricht:

„Eigentlich wäre es höchste Zeit, innezuhalten und sich neu zu sortieren. Eine Weltordnung zu begründen, die um Ausgleich und Kompromiss unter den jeweiligen Akteuren bemüht ist, einen Dialog auf Augenhöhe führt. Die vom Zenit abgleitende Weltmacht USA sucht genau diesen Ausgleich nicht. Sie ist bestrebt, eigene Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen, notfalls mit Gewalt. Und nicht zuletzt mit Hilfe einer auch medial betriebenen Dämonisierung des gegenwärtigen Hauptgegners Russland. Die Machtpolitik Moskaus, Teherans oder Pekings ist im Zweifel jedoch nicht mehr und nicht weniger skrupellos als die des Westens. Sie in den Kategorien von „gut“ und „böse“ zu verorten, wobei „wir“ natürlich zu den Guten rechnen, das grenzt an Volksverdummung.“ S. 167.

Wenn ich an Winklers „Zerbricht der Westen?“ denke, kommt mir genau diese Verdummung in den Sinn. Genauso wie die Worte von Frau Krone Schmalz aus dem o.g. Buch:

„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich zudem das journalistische Selbstverständnis gewandelt hat. Es geht nicht mehr in erster Linie darum zu informieren, sondern darum, die Menschen auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Eine solche Haltung, zu der sich manche sogar ausdrücklich bekennen, scheint mir grenzwertig. Auf welches Recht könnten sich Journalisten in pluralistischen demokratischen  - und nicht diktatorisch geführten – Gesellschaften dabei berufen? … Demokratie ist auf ein breites Meinungsspektrum angewiesen und darauf, dass angstfreie Debatten möglich sind. Es ist ein Jammer, dass dieser Luxus einer Demokratie von zwei Seiten in die Zange genommen wird. Auf der einen wettern rechte Demagogen und hasserfüllte Wutbürger, auf der anderen intolerante Mainstream-Journalisten und überhebliche Expertokraten, die alles zu wissen meinen, in den letzte Jahren immer wieder spektakulär danebenlagen.“ S. 259.

Fazit: Wer es geschafft hat, dem polit. Geschehen, v.a. deren Interpretation der Leitmedien zu entkommen, die durch alle großen überregionale Zeitungen und Fernsehen gegeistert hat, wenn man z.B. a lá Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel die letzten 5-7 Jahre verbracht hat, der könnte evtl. Nutzen aus diesem Buch ziehen. Sonst kann man die kostbare Lesezeit viel spannderen Werken widmen, s.o. Auch „Die Krise der Demokratie und wie wir sie überwinden“ von Ch. Lammert und B. Vormann ist eine sehr gute Adresse, wie wertvolle Denkanstoße von Helmut Schmitt in „Was ich noch sagen wollte“.