Rezension

Märchenhaft

Die Straße der Geschichtenerzähler - Kamila Shamsie

Die Straße der Geschichtenerzähler
von Kamila Shamsie

Bewertet mit 4 Sternen

Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs reist Vivien zu Ausgrabungen nach Labraunda, in die heutige Türkei. Ein aufgeschlossener Vater, selbst Hobbyarchäologe, ermöglichte ihr ein Studium und die Teilnahme an diesem Projekt, zu der Zeit fast ein Novum für eine junge Frau aus guter Familie. Dort wird sie von einem Freund der Familie, einem osmanischen Wissenschaftler Tahsin Bey unterstützt. Vivien kennt Tahsin schon seit Kindertagen, aber in der Zeit der gemeinsamen Arbeit, wandelt sich ihr freundschaftliches Gefühl in eine tiefe Liebe, die nicht unerwidert bleibt. Doch der Krieg in Europa wirft auch einen Schatten auf das osmanische Reich, er unterbricht die Ausgrabungen und die Forschungsreise Viviens und Tashins. Als sich die Türkei der deutschen Seite anschließt, bricht auch der briefliche Kontakt ab und von Tahsin verliert sich jede Spur. Vivien arbeitet als freiwillige Krankenschwester und ist sehr verwundert, als ein Militär – auch ein Freund des Vaters – sich für ihre Skizzen und Tagebücher aus der gemeinsamen Reise mit Tahsin interessiert, aber sie erzählt viel und auch über seine Verbindungen und Sympathien zum armenischen Volk, die er ihr anvertraut hat. Viele Monate später, Vivien reiste inzwischen durch Indien, erreicht sie ein Brief, der ihr die Augen öffnet, welche Katastrophe sie durch ihren Vertrauensbruch ausgelöst hat.
 Qayyum Gul aus Peschawar kämpft mit seinem indischen Regiment für die Engländer in Ypern, wird schwer verletzt und kehrt desillusioniert und von der Loyalität der Engländer enttäuscht ,nach Asien zurück. Im Zug nach Peschawar lernt er Vivien kennen, die nun 1915 sich dort für einige Zeit aufhalten möchte, die Geschichte des Landes zu erkunden und die Sprache zu lernen. Von da an wird sich der Weg der Beiden immer wieder kreuzen, denn ihr Schicksal scheint miteinander verbunden.
 Der Roman schildert die Geschichte Viviens und die Geschichte Qayyums in zwei Handlungssträngen, Beide sind verbunden durch die Liebe zur Archäologie und der Suche nach der geheimnisvollen Siedlung Kaspatyros. Gleichzeitig ist es ein beeindruckendes Zeitbild aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Das bröckelnde englische Empire und seine Kolonien werden genauso farbig beschrieben, wie das untergehende osmanische Reich und der Wunsch Viviens nach einen selbstbestimmten Leben. Antike Überlieferungen und Märchen werden eingewoben und lässt die Geschichte dieses Landstrichs über Jahrhunderte lebendig werden. Dieser Roman fände auch in der realen Straße der Geschichtenerzähler in Peschawar seine Zuhörer, fast wie weitere Episoden aus 1001 Nacht. Daneben ist sind die politischen Wirren in Europa und im Orient jener Zeit realistisch und kenntnisreich dargestellt. Für mich ein ganz besonderer Lesegenuß.