Rezension

Frankreich trifft Süd-Korea

Ein Winter in Sokcho - Elisa Shua Dusapin

Ein Winter in Sokcho
von Elisa Shua Dusapin

Bewertet mit 4.5 Sternen

Nachdem vor kurzem seine Frau gestorben ist, braucht der alte Herr Park Hilfe in seiner Pension an der südkoreanischen Küste. Die junge Icherzählerin nimmt den Job als Köchin und Mädchen für alles in ihrem Heimatort an – notgedrungen vermutlich. Ihre Mutter, die die Tochter allein aufgezogen hat, arbeitet in Sokcho auf dem Fischmarkt und lebt in einem winzigen Kämmerchen über der Fischhalle. Im Sommer kommen Touristen in den Ort, um an den Strand zu gehen, den Nationalpark in der Nähe zu besuchen und per Fernglas auf die stacheldrahtbewehrte Grenze zu Nord-Korea zu blicken. Wer im schneidend kalten, nebligen Winter nach Sokcho kommt, sucht in dem kleinen Ort Ruhe oder versteckt sich hier vor der Welt.

Einer der wenigen Gäste der Pension ist ein Comic-Zeichner aus Frankreich, der dringend den nächsten Band seiner Reihe fertigstellen muss. Auch wenn Yan Kerrand das koreanische Essen der jungen Frau beharrlich boykottiert und sich aus Fast-Food-Kartons ernährt, interessiert er sich notgedrungen für die Gegend. Er braucht dringend den Hintergrund für seinen Comic. Die Pension besteht u. a. aus einem Stelzenbau, eine wahrhaft ungewöhnliche Kulisse.  Die Schönheit seiner winterlichen Umgebung scheint der Zeichner noch nicht wertzuschätzen, setzt sie jedoch in Gedanken sofort in ein gezeichnetes Universum um. Die Icherzählerin ist Tochter eines Franzosen, den sie nie kennenlernte. Sie hat gerade in Seoul ihr Koreanisch- und Französisch-Studium abgeschlossen. Beste Voraussetzungen, um sich mit dem Fremden zu unterhalten, sollte man annehmen. Doch zunächst beäugen die beiden sich vorsichtig distanziert, ehe sie miteinander ins Gespräch kommen.

Einen bemerkenswert umfangreichen Einfluss auf die Handlung haben Werte und Einstellungen, die außerhalb der unmittelbaren Begegnung zwischen den jungen Leuten liegen. Die Mutter der Erzählerin drängt sie, endlich zu heiraten und taxiert förmlich ihren Marktwert. Der potentielle Bräutigam Jun-oh wiederum erwägt eine Schönheitsoperation, um seinen Wert als Model auf dem internationalen Markt zu steigern. Schließlich besinnt die junge Frau sich auf die international verständliche Sprache des Kochens und Essens – und die kurze Erzählung kommt zu einem überraschenden Ende.

In Elisa Shua Dusapins kurzem Roman wird viel geschwiegen, angenommen und gehofft. So meint die junge Frau, die Frankreich nur aus Romanen kennt, sie würde das Land verstehen, weil sie selbst am Meer aufgewachsen ist. Anstatt den Fremden zu fragen, warum er keine Frauen zeichnet, sucht sie selbst nach einer möglichen Antwort.  Sehr dicht und stimmungsvoll formuliert – Respekt!