Rezension

Berührender, verstörender Roman einer ungelebten Liebe

Hör auf zu lügen - Philippe Besson

Hör auf zu lügen
von Philippe Besson

Bewertet mit 5 Sternen

Mit 11 Jahren wusste Philippe, dass er Jungen liebte. Ein Mann wird nicht durch äußere Einflüsse homosexuell, er ist es von Jugend an. Der Junge wächst als Sohn eines Dorfschullehrers in der Charente auf; sein Vater unterrichtet alle 7 Schuljahre gemeinsam in einem Klassenraum. Schon früh werden Philippe soziale Grenzen aufgezeigt. Dass er bei der Weinlese hilft wie alle Kinder, schickt sich für den Sohn des Dorfschullehrers nicht. Vermutlich traut ihm auch niemand die körperliche Arbeit zu. Flexibler reagiert die Bäuerin, bei der er die Milch holt. Sie lässt ihn melken und lobt sein Talent dafür. Kurzsichtig und unsportlich, steht Philippe dem Spott seiner Mitschüler hilflos gegenüber. Er ist ein phantasievolles Kind, dessen Geschichten seine Mutter als kindliche Lügen einordnet. 6 Jahre später wird der Musterschüler in der Mathematik-Klasse seines Gymnasiums das Abitur ablegen. Lernen garantiert Aufstieg und ist damit der Weg direkt zum Glück; anders kennt der 17-Jährige es nicht. Aus einer Mathe-Klasse führt der Weg direkt zu den französischen Eliteschulen, den Grandes Écoles. Ein normales Studium oder eine Ausbildung als Lehrer wirkt im Vergleich dazu wie ein Versagen.

Seinen ersten erotischen Blick wirft Philippe auf Thomas aus seiner Parallelklasse, eine unmögliche Liebe, davon ist er überzeugt. Doch Thomas bahnt - höchst konspirativ – Wege für ihre Beziehung. Nicht allein ihre Homosexualität lässt ihre Liebesbeziehung unmöglich erschienen, stärker noch steht den Jungen ihre gegensätzliche Herkunft im Weg. Philippe wird für immer fortgehen aus dem Dorf, sich dem vorgezeichneten Weg beugen – und Thomas weiß das bereits jetzt. Für ihn gibt es darüber nichts zu diskutieren. Er wird als einziger Sohn den elterlichen Weinbau einmal fortführen und sich der Verpflichtung gegenüber seiner Familie und deren Religion beugen. Einer Verpflichtung, die er in seiner Liebesbeziehung entschieden ablehnt.

23 Jahre später ist Philippe erfolgreicher Autor und in Bordeaux zu einer Signierstunde unterwegs, als er meint, Thomas Ebenbild zu entdeckt. Weitere Jahre später sucht der junge Mann mit der verstörenden Ähnlichkeit zu Philippes großer Liebe Kontakt zu Philippe und konfrontiert ihn mit den Lügen seines Erwachsenlebens.

Philippe Besson schreibt sich als Erwachsener rückblickend die Geschichte seiner ungelebten großen Liebe von der Seele. Ein intensiver, berührender und verstörender Text, in dem ich Atempausen benötigte, um das Geschehene zu verarbeiten. Beeindruckt hat mich in erster Linie die Entschiedenheit des jungen Philippe, mit der er seine sexuelle Orientierung erlebt, verstört die Verstrickung der beiden Jungen in vorgezeichnete Lebenswege, die keine Kompromisse zulassen.