Rezension

Interessanter Kunstroman, aber schwammig

Hagard - Lukas Bärfuss

Hagard
von Lukas Bärfuss

Bewertet mit 3 Sternen

Das Begehren trifft den Tod

„Er hat sein Verderben nicht gesucht, nicht einmal die Gefahr, obwohl er dann, als es soweit war und er begriff, an welchem Faden seine Existenz hing, sich dieser Gefahr stellte, ohne zu zögern.“

 

Inhalt

 

Erzählt wird die Geschichte von Philip, einem Geschäftsmann um die vierzig, mit einem ganz profanen Leben, zwischen Verpflichtungen, anstehenden Terminen und einer hinreichend verplanten Zeit. Einer von Vielen, der in der grauen Masse verschwindet und sich mit ihr tagtäglich im gleichen Trott bewegt. Eine Zufallsbekanntschaft auf der Straße, ein willkürlicher Akt der Begegnung stellt seinen Tag und im Folgenden sein ganzes Leben auf den Kopf. Philip folgt einem Paar pflaumenblauer Ballerinas durch die Großstadt, die dazugehörige Frau betört ihn, vor allem weil er ihr Gesicht noch nicht gesehen hat und es im Grunde seines Herzens egal ist, ob sie zwanzig oder vierzig Jahre alt ist. Sie wird seine Obsession und er folgt ihr bis nach Hause, versucht in ihren Wohnkomplex zu gelangen und ihre Haustür ausfindig zu machen. Die nächsten 48 Stunden verbringt er im verbotenen Rausch der unentdeckten Beobachtung einer Fremden, sich der Gefahr, die ihm droht durchaus bewusst. Doch von ihr lassen will er auch nicht, selbst dann nicht, als sein Auto nicht mehr auffindbar ist, er nach der Flucht aus der Bahn seinen Schuh verloren hat und sein Handy keine Ladung mehr besitzt. Losgelöst von Raum und Zeit und dennoch erschreckend getrieben steuert das Intermezzo seinem Finale entgegen und Philip seinem Verderben.

 

Meinung

 

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss ist Dramatiker und Romancier zugleich und gehört der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an, sein vorliegendes Buch wird diesem Anspruch mehr als gerecht, vermag er doch eine vollkommen belanglose, willkürliche Situation in ein fesselndes Spiel zu verwandeln und sie darüber hinaus noch  hinterfragend, sezierend und philosophisch zu verpacken. Sprachlich konnte mich dieses Buch auf ganzer Linie überzeugen – so viel Inhalt, so viele Varianten in nur wenigen Sätzen, die außerdem noch ausreichend Interpretationsspielraum lassen – sehr faszinierend.

 

Der Autor lässt den Leser rätseln, indem er einen übergeordneten Erzähler einsetzt, der seinerseits versucht die Ansprüche des Protagonisten Philips zu entschlüsseln. Dieser Ansatz wirkt wie ein Variante, das Unerklärliche zu offenbaren und wahrt andererseits eine interessante Distanz, die eher aufarbeitend als vorwurfsvoll daherkommt.

 

 Inhaltlich hingegen ist das Werk sehr diskutabel und schwer greifbar. Man fühlt sich selbst wenig involviert und hat auch kein genaues Bild vor Augen. Die geschilderten Momentaufnahmen sind ein Experiment, ja ein Gedankenexperiment bezüglich einer kleinen Realitätsverschiebung. Bärfuss geht der Frage nach, warum Menschen von ihren erlernten Verhaltensmustern abweichen und sich plötzlich in einer Art Parallelwelt wiederfinden, die vollkommen neue Perspektiven bietet aber auch ungeahnte Abgründe erscheinen lässt. Und er geht sogar noch weiter. Denn nicht nur Philip allein entscheidet, wie er handelt, sondern auch andere unbeteiligte Zeitgenossen in Form von Kontrolleuren, Taxifahrern und Postboten, ja sogar in der Erscheinung einer Elster, die ihren Platz beansprucht. Außerdem liefert er die Antwort auf alle resultierenden Fragen, die den Leser beschäftigen gleich mit, indem er schreibt: „Vielleicht wollte mir seine Geschichte etwas sagen, mich an etwas erinnern, dass ich nicht hätte vergessen dürfen. Bloß hatte ich keine Ahnung, was das hätte sein können, welche Lehre ich aus der Geschichte hätte ziehen sollen.“

 

Fazit

 

Ein ganz klassischer Fall für eine Bewertung mit 3 Lesesternen, denn das Für und Wider hält sich hier die Waage. Kulinarisch betrachtet würde ich sagen, es handelt sich weder um Fleisch noch um Fisch und kann damit keinen nennenswerten Beitrag leisten, doch interessant ist dieser sezierende Blick auf gesellschaftliche Werte allemal. Ein optimales Buch für eine Diskussionsrunde, für ebenfalls vielschichtige Meinungsäußerungen und unterschiedliche Blickwinkel, demnach auch eine Empfehlung für den gymnasialen Oberstufenunterricht. Ein Buch, welches in Erinnerung bleibt – ohne wirklich Bestand zu haben und diese literarische Leistung möchte ich loben, selbst wenn mir persönlich alles zu schwammig und offen blieb.