Rezension

Kyoko denkt nach

Kein schönerer Ort - Manichi Yoshimura

Kein schönerer Ort
von Manichi Yoshimura

Bewertet mit 4 Sternen

Umizuka ist ein Ort, der immer schöner werden soll. dafür sind den Einwohnern zahlreiche Regeln auferlegt worden - vom nachbarschaftlichen Mülleinsammeln, Grünanlagenpflegen bis hin zu gemeinschaftlichen Feiern und einer gruppenstiftenden Hymne. Dass diese Regeln in alle Bereiche des Lebens vordringen, erlebt schon die elfjährige Kyoko in der Schule, wo die Schüler nach den „Zehn Regeln der Klasse 5b“ (S. 48) leben sollen. Nummer 3. etwa lautet „Beim Schulessen wollen wir nichts zurückgehen lassen“, Nr. 8 „Wir wollen zusammenstehen“, Nr. 10 „Wir alle sind eins“. Da die Lektüre dem Bericht des Mädchens Kyoko folgt, enthüllt sich nur Zeile für Zeile, wie tief Umizukas Regeln in alle Winkel des Privaten vordringen. Denn Kyoko versteht nicht alles, was um sie geschieht, aber sie denkt viel nach und reibt sich stark mit den strengen, scheinbar antisozialen Regeln ihrer Mutter, die sich vor den Nachbarn versteckt und immer weniger mit Kyoko versteht. Die erkennt schließlich: „Wie soll man auch verstehen können, was andere dachten, wenn man oft genug nicht einmal verstand, was im eigenen Kopf vorging.“ (S. 104)

Es geht aber noch sehr viel mehr vor in diesem Ort Umizuka, den offenbar vor einigen Jahren eine schlimme Katastrophe heimgesucht hat, deretwegen alle Bewohner erst fort- und später wieder hergezogen sind. Dieser Umzug hat offenbar mit der Einführung strenger Regeln zu tun und mit einigen Merkwürdigkeiten, die Kyoko nicht in Frage stellt, die aber beim Lesen so gar nicht alltäglich wirken: Sieben Schüler sterben innerhalb eines Schuljahrs, doch Kyoko argwöhnt nichts, während am Ende jedes Absatzes Alarmglocken schrillen.

Es ist eine Stärke des Buchs, das es nicht versucht, den naiven Tonfall einer Elfjährigen zu imitieren, denn Kyoko erzählt mit fast zwanzig Jahren Abstand in der Sprache der Erwachsenen. Aber sie referiert ihren damaligen Wissensstand glaubwürdig und umso überzeugender. Es ist eine weitere Stärke dieses Romans, wie er den Blick des Lesers auf die Mutter Seite für Seite wandelt. Der innere Totalitarismus wird durch den äußeren abgelöst und öffnet den Blick auf eine Gesellschaft, die sich dem nichtalltäglichen Alltag nach einer Katastrophe unterwirft. Da der Roman im Angesicht der Fukushima-Katastrophe geschrieben wurde, denkt man unwillkürlich an radioaktive Verseuchung - aber hierzu gibt es allenfalls Andeutungen. Wohl aber wird deutlich, wie wichtig der Verlust des Hinterfragens, die Eindämmung des individuellen Willens und die Einschränkung einer wissensbasierten Fähigkeit zur Kritik für eine etwaige Regierung ist, die einfach weitermacht. Umizuka war nicht schön und ist nun erst recht nicht schöner, egal was die Hymnen künden!

Ein strahlkräftiger Roman mit langer Halbwertzeit.