Rezension

Märchenhaft und sehr eigen

Nebelinsel - Zoe Gilbert

Nebelinsel
von Zoe Gilbert

Bewertet mit 4 Sternen

"Hinter Gullers kindlichen Zügen verbirgt sich etwas Dunkles, das ihm zuwider ist."  S.40

Nach dem ersten Kapitel, hatte ich das Gefühl, dass es eine Art "Herr der Fliegen" á la Golding werden könnte, mit zunehmenden Geschichten der Stadt Neverness hingegen verstärkte sich ein Empfinden, als würde ich moderne Erzählungen der Gebrüder Grimm lesen. Letztlich war es beides und keines von beidem, denn Zoe Gilberts erschaffene Welt hebt sich noch einmal davon ab.
Anfangs war ich etwas zwiegespalten. Der Einstieg ist sehr skurril und ungewöhnlich. Man muss sich auf Rituale und ein Denken von einer Gemeinschaft einlassen, die sehr fremd und manchmal auch brutal wirken. Als Leser schlendert man als Beobachter durch die Häuser der Erzähler, erfährt von ihren Schicksalen und entdeckt dabei Inhalte, die an zurückliegende Sagen erinnern.
Einige davon konnte ich beim ersten Lesedurchgang noch nicht ganz entziffern oder wollte es vielleicht zu dem Zeitpunkt gar nicht. Besonders die Beziehung zwischen Jungen und Mädchen / Männern und Frauen ist hier sehr an die Grenzen getrieben worden. Alte Muster werden noch nicht ganz durchbrochen, denn bereits zu Beginn wird klar, alles zielt darauf ab, einen Partner fürs Leben zu finden. An einigen Stellen erspürt man eine kleine Wende, als wolle der Erzähler sagen, so WAR es, so muss es aber nicht bleiben, nur um kurz darauf wieder von dem alt bekannten Dorfleben verschluckt zu werden.

"'Wasserbulle', sagte sie.
Jetzt müsste mir vor Angst eiskalt, denn das ist die Geschichte, die Win am häufigsten erzählt, ob im Bardenhaus oder hier auf dem Sofa.” S.78

Ich habe mich dennoch gerne von Geschichte zu Geschichte gelesen. Einige Erzählungen haben mich dabei tatsächlich auch komplett überzeugen können. Sie vereinen Gedanken, die man sehr gut auf das "moderne" Leben anwenden kann, spielen dabei aber mit dem Märchenhaften und weben Elemente ein, die uns in eine andere Welt entführen können. Die Idee, dass jeder Dorfbewohner sozusagen mit etwas Übernatürlichem, nicht leicht Erklärbaren in Verbindung steht, fand ich dabei ebenfalls sehr geglückt. Zwar wechseln die Erzähler immer mit jedem Kapitel, jedoch erfährt man meist noch etwas über diese in den anderen Geschichten. Ein roter Faden ist dadurch auf jeden Fall erkennbar. Gleichzeitig wird nicht alles bis auf das kleinste Detail erzählt und es bleibt genügend Spielraum für eigene Interpretationen.
Die Stimmung ist durchgehend etwas düster, als würde gleich von irgendwoher ein Nebel aufziehen (der deutsche Titel trifft es also ziemlich gut), dennoch ist es nicht zu erdrückend oder deprimierend. Besonders gut liest sich das Buch aber wirklich an regnerischen, dunklen Abenden. Dann hat man das Gefühl, als sei man selbst in dem Dorf und lausche den Erzählern im Bardenhaus.

"'Horch, wie der Rhythmus durch das Ginsterlabyrinth rollt." S.223

 

INSGESAMT: Eine sehr eigener, aber auch fesselnder psychologischer Erzählband, der das Alltägliche mit dem Märchenhaften geschickt verknüpft. Mir haben zum Zeitpunkt des Lesens nicht alle Geschichten zugesagt, das liegt aber wohl auch daran, dass das Buch gut dazu geeignet ist, langsam und bewusst gelesen zu werden. Andere Erzählungen hingegen haben mich direkt gepackt und überzeugt. Für jeden, der gerne von außergewöhnlichen Dorfgemeinschaften liest.