Rezension

Fesselnder Entwicklungsroman

Die Brüder Fournier - Matthias Wittekindt

Die Brüder Fournier
von Matthias Wittekindt

Bewertet mit 4 Sternen

"Die Brüder Fournier", Matthias Wittekindts neuer Roman, erzählt die Geschichte von Iason und Vincent Fournier. Die beiden Brüder wachsen während der 70er Jahre in in einem fiktiven Brüsseler Vorort namens Envie auf. Ihre Kindheit ist geprägt von der Abwesenheit der Eltern, die sich schon früh mehr um andere Dinge als ihre Kinder kümmern und so ist es die Aufgabe des ein Jahr älteren Iason, sich um seinen Bruder zu kümmern. Überfordert mit der Situation entwickelt sich Iason zu einem impulsiven Teenager, der überall aneckt und sowohl von Gleichaltrigen, besonders aber auch den Erwachsenen meist missverstanden wird. Schritt für Schritt gerät er immer mehr auf die schiefe Bahn und als sich in kurzer Zeit mehrere Todesfälle ereignen ist klar, auf wen der Verdacht zuerst fällt.
Wo in einem anderen Kriminalroman nun wahrscheinlich die Tat und die Ermittlungen im Mittelpunkt stehen würden, geht der Autor hier einen anderen Weg: Wir begleiten die Brüder, insbesondere Iason, durch ihre Kindheit und Jugend bis ins Erwachsenenalter hinein und erfahren so vieles über die familiären Hintergründe und die sozialen Strukturen in der dörflichen Gemeinschaft, allerdings immer gefiltert durch die Wahrnehmung der Protagonisten und so kann man sich vor allen Dingen bei Iason, der schon früh unter einer gestörten Wahrnehmung leidet, nie sicher sein, ob die Realität nicht doch ein klein wenig anders aussieht. Und genau das macht für mich die Stärke dieses Romans aus - nie wusste ich mit Gewissheit, was tatsächlich vorgefallen ist. Doch bis zu einem gewissen Grad sind Wahrnehmung und Realität ja immer auch relativ und ich liebe es, wenn man bei Geschichten mit solch "unzuverlässigen Erzählern" auch selbst gefordert ist und alles immer wieder hinterfragen kann und muss. Diese sich durch die ganze Erzählung ziehende Unsicherheit macht das ganze auch zu einer Art Kriminalroman, wobei ich eine Zuordnung ins genre des Coming-of-Age-Romans hier deutlich passender gefunden hätte. Dies aber nur als kleiner Kritikpunkt, da der Klappentext bei dem ein oder anderen Leser eventuell falsche Erwartungen auslösen könnte.
Besonders gefallen hat mir der sachliche, fast beiläufige Schreibstil Wittekindts, der in kurzen Sätzen die Szenen beschreibt und somit ersteinmal sehr glaubwürdig klingt, wären da nicht immer wieder einzelne Details, die einen an dieser Glaubwürdigkeit zweifeln lassen. Der Kontrast von Erzählung und Realität wird somit zwischen den Zeilen gekonnt unterstrichen. Auch die Andeutungen von Ereignissen in der Zukunft, welche der Autor immer wieder einfließen lässt, schaffen oft eine leicht bedrohliche Atmosphäre.
Insgesamt bietet der Roman ein faszinierendes und packendes Leseerlebnis, welches die Genregrenzen gekonnt überschreitet und Dank eines tollen Schreibstils und einer außergewöhnlichen Hauptfigur absolut zu fesseln weiß.