Rezension

Moderner Don Quichotte

Wir alle sind Widerlinge -

Wir alle sind Widerlinge
von Santiago Lorenzo

Bewertet mit 5 Sternen

Santiago Lorenzo, eigentlich Filmproduzent, hat sich zum Schreiben aus der eingebildeten Großstadt Madrid ins öde Bergland zurückgezogen – wie sein Antiheld Manuel. Auf diese Weise musste er sich mit seinem Roman eingestehen „Wir alle sind Widerlinge“ - im Original „Los Asquerosos“. Sein vierter Roman, ein vielbeachteter Bestseller.

Ein verhängnisreicher Sommer in Madrid. Der kleinwüchsige 24jährige menschenscheue Manuel wird während einer Demonstration in der Eingangshalle seines Wohnhauses von einem Polizisten brutal angegriffen. In seiner Not rammt er dem Polizisten seinen Schraubenzieher in den Hals. In dem Glauben, den Polizisten getötet zu haben und einer Mordanklage mit Gefängnis ausgesetzt zu sein, flieht er mit der Hilfe seines Onkels - dem Ich-Erzähler - aus Madrid. Manuel soll für die Behörden möglichst unauffindbar und für den Rest der Gesellschaft unsichtbar sein, deshalb „bezieht“ Manuel im öden menschenverlassenen keltiberischen Bergland eine Bruchbude, ohne Wasser und ohne Strom. Ohne menschlichen Kontakt, nur mit der monatlichen Lidl-Lieferung allen Notwendigsten, die sein Onkel organisierte. Manuel mutiert zum abgekapselten Asketen, selbstgewollt oder den Umständen geschuldet? Manuel hat nichts und braucht nichts, zumindest nichts Materielles. Nur Einsamkeit und Zeit hat er im Überfluss, den er innigst zu lieben beginnt und die Abwesenheit von Menschen. Bis zu dem Zeitpunkt als eine laut grölende neureiche madrilenische Sippe das Nachbarhaus als Wochenenddomizil bezieht. Santiago Lorenzo lässt ab jetzt seiner Antipathie gegenüber dem Konsumwahn der Gesellschaft und deren ausschweifenden Lebensgewohnheiten freien Lauf. In Manuel wächst der Widerstand gegen diese Eindringlinge und er schmiedet aus Rache einen Vertreibungsfeldzug.
„Mittelfristig prognostiziert Manuel darüber hinaus zusätzliche Unannehmlichkeiten, die zwar prosaischer Natur, einer Prävention jedoch nicht minder würdig waren“ (s. 158).
„Dennoch musste man sie sich vom Hals schaffen, da ihre Art des In-der-Welt-Seins klinisch gesehen divergent zu der seinen war“ (S. 171).
Manuel ersinnt „raffinierte Hundsföttereien“. Seine Taktiken bestachen durch „retardierende Zersetzung und aufgeschobene Wirkung“.

"Wie könnte man unbemerkt ein Haus sabotieren?“, das hat sich Lozenzo zu Beginn des Romans gefragt. In seiner unnachgiebigen Abscheu vor dem „Vulst“ kennt Lorenzo keine Grenzen.

Die zwei Übersetzer m/w Daniel Müller und Karolin Viseneber haben eine außergewöhnliche, im positivsten Sinn des Wortes eine eigenartige Übersetzung geliefert. Um die literarische Sprache von der Alltagssprache abzuheben, haben sie den Neologismus zu ihrem eigenen Stil erkoren. Diese Stolpersteine verlangen vom Leser volle Konzentration, der Duden hilft nicht immer.

Trotzdem ist das Lesen köstlich, kaum zu glauben wie komisch und mit offenen Humor Satire literarisch umgesetzt werden kann. Dass hinter dem, über jeden Lebensabschnitt Manuels bestens informierten Onkel der Autor Santiago Lorenzo steckt, ist meine starke Vermutung. Eben Filmemacher und Drehbuchschreiber.