Vom kleinen Glück und vom grossen Scheitern
Lukas Hartmann stellt in seinem Roman «Ins Unbekannte» zwei Menschen gegenüber, die nichts verbindet, ausser die Zeit, in der sie lebten, und ein unzähmbarer Hang zur Leidenschaft.
Zum Inhalt: Das 19. Jahrhundert ist am Ausklingen, das 20igste steht mit all seinen noch unbekannten Turbulenzen vor der Tür und ruft danach, gestaltet zu werden. Fritz Platten, ein Ostschweizer, ist hellauf begeistert von sozialistischen und kommunistischen Bestrebungen. Platten verschlägt es erst in die Schweizer Politik und schliesslich samt Familie nach Russland. Insbesondere Lenin hat es ihm angetan; ihm hilft er zur Rückkehr nach Russland; er rettet ihm sogar einmal das Leben.
Genau in die Gegenrichtung reist Sabina Spielrein. Sie wird als noch sehr junge Frau im Burghölzli von Carl Gustav Jung wegen ihrer sognannten Hysterie behandelt und landet prompt in einer leidenschaftlichen und problematischen Beziehung mit Jung. Nach ihrer Heilung studiert sie Medizin und wird anerkannte Psychoanalytikerin. Später kehrt sie nach Rostow zurück. Ihr Mann ist ebenfalls Arzt. Die Psychoanalyse wird in der Sowjetrepublik aber zur unsowjetischen Sache erklärt, Spielrein darf immerhin als Ärztin praktizieren.
Sowohl Spielrein als auch Platten – deren Lebenswege sich wohl höchstens «auf Luftlinie» kreuzten, auch wenn Lukas Hartmann so etwas wie eine flüchtige Begegnung in den Roman hineindichtet – ist ein hartes Ende beschieden. Spielrein wird als Jüdin während der deutschen Besatzung Rostows im 2. Weltkrieg im Verlauf von «Säuberungen» getötet; Platten wird wie viele andere in Sibirien inhaftiert, zu harter Fron gezwungen, und – all seiner Träume und Hoffnungen beraubt – gleichfalls erschossen.
Die Jahrzehnte rund um die Jahrhundertwende haben mich schon oft beschäftigt. Ich bringe einfach alles was damals an Nationalismus, an Befreiungsideen, an Utopien, Machtverschiebungen, Kriegstreibereien, Krisen, Nach-mir-die-Sintflut-Festivitäten, Drogenkonsum, Aufbrechen von Konventionen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Errungenschaften, mitsamt starkem Einfluss auf Kunst und Literatur nicht zusammen (und wenn ich die Stichworte jetzt so lese, kommt mir auch der naheliegende Gedanke, es gelte derzeit genauso viel Wirrnis wie dannzumal.)
Kurz: Es fällt mir schwer, mir ein Leben zu jener Zeit vorzustellen, weder in der Bourgoisie, zu der Spielrein zu zählen ist, noch in der Arbeiterklasse eines Fritz Platten. Und nun pickt Lukas Hartmann diese zwei gegensätzlichen Menschen aus jener Zeit aus der Masse heraus, hantiert mit Fakten, Ideen und Phantasie, setzt sich in die Köpfe der beiden und versucht genau das: eine wirre Welt und ihre Menschen zu erfassen, Zeitsplitter zusammenzufügen, die kaum zusammenzufügen sind. Auch im Vergleich der beiden Lebenswege bleibt am Ende nur das Fazit: Was für eine verrückte Zeit! Was für Herausforderungen! Was für ein Wille, das Leben selbst und frei zu gestalten! Und welche Möglichkeiten, in die Irre zu laufen!
Wunderbar gewählt, der Titel des Buches, vereint er doch sämtliche Aspekte, die im Buch vorkommen: Das Neue, das Fremde, das Ungewisse, das Geheimnisvolle.
Autor: Lukas Hartmann
Titel: Ins Unbekannte, Die Geschichte von Sabina und Fritz, Roman,
Verlag Diogenes, 2022, gebunden, 282 Seiten
ISBN 978-3-257-07205-1, 25.– Euro/32.– Franken