Rezension

Die Grenzen der Freiheit

Ins Unbekannte -

Ins Unbekannte
von Lukas Hartmann

Bewertet mit 5 Sternen

Menschen sollten frei sein und selbst entscheiden dürfen, welche politischen, gesellschaftlichen und religiösen Wege sie einschlagen, solange sie anderen auch diese Freiheit zugestehen. Die europäische Geschichte lehrt uns eines Besseren, insbesondere die finsteren Jahre vor und während des Zweiten Weltkriegs.

Lukas Hartmann geht mit zwei sehr unterschiedlichen Menschen "Ins Unbekannte".

Den hoffnungsvollen Anfang macht Sabina Spielrein, einer 19 jährigen Russin, die von ihren vermögenden Eltern 1904 in die schweizerische Uniklinik Burghölzli eingeliefert wird. Sabina gilt als hysterisch, ihre Eltern sind mit ihr überfordert. Der 10 Jahre ältere Carl Gustav Jung nimmt sich ihrer Behandlung an. Die neuen Methoden der psychanalytischen Gespräche zeigen ihre Wirkung. Sabina reift zur jungen Dame und fasst den Entschluss, Medizin zu studieren und in die Fussstapfen ihres umschwärmten Vorbildes zu treten. Da die Affaire mit ihrem Arzt auf unfruchtbaren Boden fällt und auch Dr. Freud, den sie in Wien kennengelernt hat, ihr zu mehr Abstand rät, heiratet sie 1912 den russischen Arzt Pawel Scheftel in Rostow, kehrt aber zur Geburt ihrer ersten Tochter nach Berlin zurück. Pawel ist unglücklich in Berlin und reist heimwärts. Erst 1923, auf drängende Bitten ihrer Familie und ihres Mannes, fährt auch Sabina ins Ungewisse, in die Sowjetunion...

Ganz anders ergeht es Fritz Platten. 1883 in der Schweiz geboren, lernen wir ihn im November 1941 im sowjetischen Straflager Lipowo kennen. Rückblenden während seiner monotonen Arbeit und seinen albtraumgeplagten Nächten erzählen uns von seinem Leben in der Schweiz, von einer abgebrochenen Schlosserlehre, von seinem Engagement im Arbeiterbund, seiner maßgeblichen Beteiligung am schweizerischen Landesstreik, aber vor allem seiner Heldentat, dem exilierten Lenin 1917 die Rückkehr mit dem Zug quer durchs feindliche Deutschland in dessen Heimatland zu ermöglichen. Fritz Platten wird zum überzeugten Kommunisten und emigriert 1923 ins vermeintliche Arbeiterparadies, mit seiner großen Liebe Berta Zimmermann. Mit einer landwirtschaftlichen Kommune scheitert er grandios und konzentriert sich ab 1926 lieber als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moskauer Agrarinstitut. Doch ihn ereilen die stalinistischen Säuberungsaktionen...

Lukas Hartmann lässt 1905 diese beiden Menschen in Zürich bei einer Demonstration aufeinandertreffen. Beide noch jung, voller Hoffungen und Ideale, streifen sich ihre Blicke nur für einen Atemzug, dann tauchen beide schon wieder ab, in ihre ganz eigenen Biografien. Sabina mit ihrer Metamorphose vom getriebenen Kind zur selbständigen Frau und anerkannten Psychanalytikerin. Fritz vom umstürzlerischen Jungspund zum gefestigten Mann mit Überzeugungen, der selbst im Straflager an Stalins Unfehlbarkeit glaubt.

Beide kannten nicht die ganzen Spielregeln. Beide waren davon überzeugt, dass alles menschlich bleibt. Sabina ging 1942, weil sie dazu aufgefordert wurde, mit 25000 weiteren Juden zum Schulgebäude von Rostow. Fritz erhob sich 1942 von seinem Krankenlager, um ein letztes Mal die Gedenkstätte für seine verstorbene Frau Berta zu besuchen, begleitet von Pjotr, dem er vertraut, der ihm die Wunden versorgte.

Voller Respekt beendet Hartmann an dieser Stelle seinen Roman. Er möchte kein weiteres mal vom Unrecht und von der Sinnlosigkeit erzählen. Er erzählt von Lebensentwürfen, von Reifung und Umbruch. Er geleitet den Leser ins Unbekannte und vermittelt einen Eindruck davon, wieviel Potential, Fortschritt und Freiheit von Machtgier und Menschenhass zerstört wurde.

Ein eindrücklicher Roman, der mit großen Namen die Neugier wachhält, Gewissheiten vorraussetzt und den Fokus auf (nur) zwei Menschen setzt, die uns den Geist dieser Zeit mit all seinen Varianten fassbar macht. Die Nachwirkung ist stark.