Rezension

89/90

89/90 - Peter Richter

89/90
von Peter Richter

Bewertet mit 4 Sternen

Der Titel verrät es gleich: Es ist ein Roman über die zwei geschichtsträchtigen Jahre, die gemeinhin als Wendejahre bezeichnet werden.
Der Erzähler ist zu Beginn 15 - stark autobiographisch gezeichnet - , stammt aus Dresden, aus moderat regimekritischem, bildungsbürgerlichem Haus.

Damit hat er einiges gemeinsam mit dem Protagonisten des vor einigen Jahren erschienenen, zunächst gehypten, dann genüsslich als Inbegriff der Langeweile und Manieriertheit verrissenen, von mir sehr gern gelesenen "Der Turm" von Uwe Tellkamp.

Doch so ähnlich die Ausgangslage, so stark unterscheiden sich die beiden Bücher voneinander.

Spielt "Der Turm" in der vermeintlichen bürgerlichen Wohlanständigkeit eines Dresdener Villenvororts, so stammt der Ich-Erzähler von 89/90 wohl auch von dort. Ihn zieht es aber auf die Straße. 
Er ist einer der typischen rebellischen Jugendlichen, die anders sein wollen, nichts zu tun haben wollen mit dem Establishment, sich nachts verbotenerweise im Freibad treffen, rauchen, trinken, den Mädchen nachschauen und wilde Zukunftspläne schmieden. Sie nennen sich Punks und werden von den Ereignissen in jenem Sommer und Herbst 1989 genauso überrollt wie die meisten anderen. 
Die Städte leeren sich, immer mehr Menschen reisen aus, über die Grenze, lassen ihre Wohnungen zurück, manchmal sogar noch volle Kühlschränke. Es entsteht ein merkwürdiges Machtvakuum im Staat, ein irgendwie anarchisches Klima, in dem vieles möglich erscheint. 

Und diese Zeit des gesellschaftlichen, politischen Umbruchs fällt beim Protagonisten zusammen mit den Veränderungen, Unsicherheiten an der Schwelle des Erwachsenwerdens. Auch die Erwachsenen scheinen mit Anderem beschäftigt. So ziehen die Jugendlichen nachts um die Häuser, besuchen Punkkonzerte, Partys, laufen bei Demonstrationen mit, besetzen leerstehende Häuser. 

Dennoch ist da noch die Schule, das Wehrlager der neunten Klasse. 

„Die Weltgeschichte schreibt einem keine Entschuldigungszettel für den Alltag."

Ungetrübt ist dieser anarchische Spaß aber nicht. Nach der Maueröffnung scheint sich die Stimmung immer mehr zu ändern. 
Die vom Erzähler verächtlich "Schimmelmenschen" - nach einer verbreiteten, "moonwashed" genannten Jeanswaschung - genannten Ostdeutschen entwickeln sich immer mehr zu intoleranten, nur auf ihren eigenen, zumeist monetären Vorteil bedachte Unsympathen, rechtsradikale Skinheads schießen wie Pilze aus der Erde, machen Jagd auf Andersdenkende und Ausländer. 

"Erst war alles schwarz vor Menschen, und plötzlich war alles weiß vor Glatzen."

Peter Richter erzählt von den regelrechten Schlachten, die sich fortan Punks und Skinheads liefern, drastisch, voll Gewalt und oft auch blutig auf beiden Seiten.

„Als […] die Sonne zum letzten Mal unterging über dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, dem kleinen Scheißland, das aber irgendwie dann doch das unsere war, bezogen wir unsere Posten, deponierten die Munition und hielten uns bereit“

Der Autor berichtet damit von einer Seite dieser Jahre, die zumindest mir, nicht mehr so präsent war wie z.B. auch erwähnten Kohl-Besuche oder die Montagsdemos. Wie viel davon tatsächlich so war, kann ich als Westdeutsche ohne jegliche Verbindungen in die damalige DDR nicht beurteilen. Hochinteressant zu lesen ist es aber allemal. 

Richter erzählt anekdotenhaft, oftmals witzig, ironisch, in oft schnoddrigem, sachlichen Ton. Das wird hin und wieder auch mal albern. 
Zudem birgt der Rückblick auf solch eine entscheidende Lebensphase wie die an der Schwelle zum Erwachsenwerden auch immer die Gefahr des reichlich wehmütigen Rückblicks. So ganz entkommt dem auch 89/90 nicht. 

Insgesamt passt der Erzählstil aber und überzeugt dadurch. 

Die Lesefreude etwas trübt die konsequente Verwendung von Namenskürzeln, deren Sinn sich nicht erschließt und die nicht nur, vielleicht beabsichtigt, das Nahekommen der Personen verhindert, sondern schlicht und einfach das Lesen erschwert. 
Die zahlreichen Fußnoten, die auf humorvolle Art und Weise Bekanntes und Unbekanntes aus der DDR näher bringen sollen, hätte ich nicht gebraucht, störten aber auch nicht weiter. 

Weniger gut gefallen haben mir dann Passagen, die das damalige Geschehen verlassen und praktisch von heute aus kommentieren. 

"Wir waren nur möglicherweise diejenigen, die am meisten davon profitiert haben. Während die, die damals mit ihren Deutschlandfahnen auf uns eingeprügelt haben, zügig arbeitslos werden, der DDR nachheulen und Westdeutsche rein fürs Westdeutschsein anfeinden sollten, haben die meisten von uns sich die Welt angesehen und es im Westen überwiegend ganz gut gehabt."

"Wir konnten das ahnen, wir hatten den Westen gesehen, besuchsweise, und wir hassten es jetzt schon, dass wir auch noch Danke sagen sollten dafür.“

Das ist zwar gut formuliert, hat aber auch etwas leicht Arrogantes, Abgeklärtes, was zu dem Anarchischen der erzählten Ereignisse nicht recht passt.

Insgesamt ist Peter Richter aber ein sehr lesenswertes Buch über die Jahre 89/90 in Deutschland gelungen, das viele interessante Aspekte neu oder wieder beleuchtet und das auf unterhaltsame, frische Art.