Rezension

Abenteuerliche Familiengeschichte, interessant auch für deutsche Leser

Der Stammhalter - Alexander Münninghoff

Der Stammhalter
von Alexander Münninghoff

Bewertet mit 4 Sternen

Eine solche Familiengeschichte kann sich ein Autor fiktiver Romane kaum ausdenken; das muss man einfach erlebt haben: Auf eine Zeitspanne von hundert Jahren oder drei Generationen blickt der niederländische, 1944 noch in Posen geborene Journalist und Autor Alexander Münninghoff (74) in seiner Autobiografie „Der Stammhalter“ zurück, deren holländisches Original (2015) zweifach prämiert wurde, in den Niederlanden gerade als zehnteilige TV-Serie verfilmt wird und im Juli beim C.H. Beck-Verlag in deutscher Übersetzung erschien. Es ist eine abenteuerliche Familiensaga über den teils historisch bedingten, größtenteils aber selbst verschuldeten Niedergang seiner einst wohlhabenden Industriellenfamilie.

Mitten im Ersten Weltkrieg baut sich Großvater Joannes Münninghoff als Niederländer im lettischen Riga ein mächtiges Industrie-Imperium, wozu vermutlich auch der Waffenhandel gehört, sowie ein weit verzweigtes Netzwerk in den deutsch-baltischen Adel auf. Mit Ehefrau Erica, einer russischen Gräfin, führt er in den Jahren zwischen den Kriegen ein entsprechend mondänes Leben auf eigenem Gutshof. Erst durch die sowjetische Okkupation verliert die Familie alles und muss in die Niederlande zurückkehren. Joan ist es in diesen Jahren nicht gelungen, seinen Erstgeborenen Frans zu einem echten Niederländer zu machen, um ihn zum Stammhalter seines in den Niederlanden neu geschaffenen Imperiums zu machen, das er sich dank seiner alten Verbindungen in höchste katholische und politische Gesellschaftskreise sowie nicht immer mit legalen Mitteln aufbauen konnte.

Denn Frans Münninghoff fühlt sich trotz niederländischer Staatsangehörigkeit als echter Deutscher, bedingt durch seine Jugend im deutsch-baltischen Adel. Er tritt als der Waffen-SS bei, kämpft an der Ostfront und heiratet gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters eine Deutsche. Da Frans demnach nicht zum Erben taugt, sieht Joan bald seinen Enkel Alexander als Stammhalter. Doch seine Mutter, inzwischen von Frans geschieden, flieht mit ihrem kleinen Sohn nach Deutschland zu ihrer Mutter. Allerdings lässt ihn sein Großvater in die Niederlande entführen, wo der „Stammhalter“ zunächst beim Vater Frans aufwächst.

Alexander Münninghoff beschreibt einerseits spannend, andererseits sachlich den Niedergang seiner Familie, die durch familiäre Verbindungen nach Dänemark, Russland und in den deutsch-baltischen Adels und nach Wohlstandsleben in Lettland nun in den wirren Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erfolglos versucht, in den Niederlanden neue Wurzeln zu schlagen. Aber gerade diese Wurzellosigkeit des Autors, der zudem fern der leiblichen Mutter und ungeliebt vom Vater von Kindesbeinen an auf sich allein gestellt ist, macht es ihm wohl möglich, mit erstaunlichem Abstand und völlig unaufgeregt, gelegentlich sogar mit humoristischem oder satirischem Unterton, den Lebensweg seiner beiden Vorfahren und ihres familiären Umfeldes wie fremde Personen in den geschichtlichen Turbulenzen des 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Vieles ist von ihm selbst beobachtet, vieles aus Briefen angelesen, manches von Angehörigen zugetragen. Münninghoff lässt die Leser seiner Autobiographie nachempfinden, wie sich seine Familie spätestens nach dem Tod ihres Patriarchen, seines Großvaters, allmählich auflöst und die in einst besseren Zeiten noch eingeschworene Gemeinschaft zerfällt.

Nicht immer ist es als unbeteiligter Leser einfach, dem Geschehen in jeder Konsequenz zu folgen und alle Ereignisse in ihren chronologischen oder causalen Zusammenhang zu stellen, da Münninghoff allzu viele Nebenfiguren – entfernte Verwandte und Freunde, Schul- oder Kriegskameraden – in seine Familiengeschichte einbezieht. Manche Fakten, die für seine eigene Biografie und die seiner Familie wichtig sein mögen, sind für uns unbeteiligte Leser verzichtbar. Der Spannungsbogen wäre dichter gewesen, hätte der Autor auf solche Abschweifungen verzichtet. Davon abgesehen, ist „Der Stammhalter“ eine lesenswerte Autobiographie und Familiengeschichte auch für deutsche Leser, zumal vor allem das politische Verhältnis in den Nachkriegsjahren zwischen den Niederlanden und Belgien auf der einen und Deutschland als einstige Besatzungsmacht auf der anderen Seite treffend geschildert wird.