Rezension

Ärger mit Fremden - und Wölfen

Wo der Wald beginnt -

Wo der Wald beginnt
von Martina Junk

Bewertet mit 5 Sternen

Anne hatte ihre Freundin Kim schon lange zum Besuch an ihrem neuen Wohnort eingeladen. Wo Zugezogene „Zugereiste“ genannt werden, lebt sie mit Sebastian, der bis in die Nacht arbeitet, zwei kleinen Kindern und null Kitaplätzen. Früher hatte sie selbst eine Kita geleitet, heute ist sie den ganzen Tag allein mit den Kindern. Direkt hinter ihrem Haus beginnt ein riesiges Waldstück.  Icherzählerin Kim, die in Berlin einen Blumenladen führt und sich um ökologisch verantwortungsvolles Verhalten müht, hat sich Annes neues Leben leichter, reizärmer  vorgestellt: die Kinder einfach nach draußen schicken und nicht ständig etwas entscheiden müssen. Jan aus dem Unverpackt-Laden dagegen war Kims penetrant schlechtes Gewissen: man fuhr heutzutage nicht mehr in Urlaub, und wenn, sprach man besser nicht davon. Die Frauen kennen sich seit ihrer Kindheit. Doch die großzügige Anne, in deren Familie oft ausländische Gäste am Tisch saßen, die früher  jedes Kind spontan mitspielen ließ, zeigt sich in der neuen Umgebung fast zwanghaft misstrauisch. Die Gartenpforte muss verschlossen bleiben, die Kinder dürfen keinen Moment allein sein; denn ein Wolf war gesichtet worden.

Als Kim mit den Augen der Großstädterin die Umgebung erkundet, erlebt sie selbst, dass hier offenbar eine andere Sprache gesprochen wird. Warum dreht sich die Frau weg, um Kims „Guten Abend“ nicht erwidern zu müssen? Schließlich hat man ein Dorf schon immer daran erkannt, dass dort alle jeden grüßen, ob sie ihn kennen oder nicht. Als Anne die direkten Nachbarn zur aufwändigen Kaffeetafel einlädt, bricht aus den Besuchern heraus, wo der Schuh drückt. Seit „die Fremden“ hergezogen sind, ist im Ort alles schlimmer geworden. Fremde sind Bewohner großer Neubauten, fahren teure Autos und geben in den Betrieben die Anordnungen. Von Fremden wird man sich rein gar nichts sagen lassen. Sebastian könnte die Kritik zurückgeben, dass im Dorf nur akzeptiert wird, wer Wald oder Fischteiche besitzt. Anne klagt, dass die Einwohner ständig in Haus und Hof zu tun haben und das offenbar das einzige Gesprächsthema ist. In dieser eher bedrückenden Situation gelingt den Freundinnen immerhin ansatzweise, sich über die Umstände von Annes Wegzug aus Berlin auszusprechen und sich mit ihren gegensätzlichen Lebenssituationen zu versöhnen. Doch bevor Kim in ihren Blumenladen im vertrauten Kiez zurückkehren wird, hat „der Wald“ noch seinen dramatischen wie grotesken Auftritt.

Martina Junk folgt in ihrem Debütroman zwei Freundinnen, aus deren enger Beziehung sich Anne durch ihre Familiengründung weiter gelöst hat, als beide wahrhaben wollen. Die Autorin zeigt wie im Puppenhaus und mit hohem Wiedererkennungswert deutsche Befindlichkeiten der 2020er. Im Hintergrund zur Rush-Hour des Lebens und einer Frauen-Freundschaft tritt  „der Wald“ als Symbol anonymer Bedrohung auf.  Funks „Privates“ zeigt sich dabei politisch, indem sie pointiert auffaltet, was Frauen vom Arbeitsmarkt und aus der Politik fernhalten kann.

Fazit

Mit nur 138 Seiten bringt "Wo der Wald beginnt" das ideale Format für Diskussionen in Literaturgruppen, Lesekreisen und Aktionen wie „XY-Stadt liest gemeinsam das Buch …“. Durch die vermeintliche Idylle vor düsterem Hintergrund würde ich mir den Text ebenso gern vorlesen lassen … irgendwo in der Wildnis.