Rezension

"Alles ist nicht anders als anderswo, höchstens etwas verschoben."

Das weiße Meer
von Stefanie Sourlier

Bewertet mit 4 Sternen

Die Icherzählerin und ihre Freundin übertrumpfen sich in "Kupfersulfatblau" in der flirrenden Hitze der Sommerferien in Frankreich gegenseitig mit dem Erzählen "schlimmer" Geschichten. Beide lieben denselben Jungen. Mit Pauls Badeunfall, der wie die Szene einer Fernsehserie wirkt, setzt die Autorin die Verschiebung der Wahrnehmung ihrer Leser in Gang.

"Gegen Abend wird die Hitze erträglicher, und wir stellten unsere Stühle in die Gasse vor der Haustür wie die Alten vom Dorf, die mit ihrem Strickzeug tagelang auf der Straße sitzen und sich erzählen, was man so sagt, und immer sofort verstummen, wenn wir vorübergehen, so dass wir nicht erfahren, was man so sagt über uns. Wir sitzen vor dem Haus, und da wir kein Strickzeug besitzen, erfinden wir uns welches. Am Fuß des Dorfes liegt der Étang in der Sonne wie eine glänzende Metallscheibe." (S. 13)

In "Der Bruder" sucht der Bruder eines jungen Mannes nach dessen Selbstmord unter den Belanglosigkeiten eines Lebens die Wahrheit auszumachen. Das Rätsel, warum unter mehreren Brüdern diese beiden einander offenbar besonders nahe waren, bleibt nach dem Lesen der Geschichte ungelöst. Eine weibliche Erzählerin will in "Nach Italien" den Kontakt zu ihrem Onkel Georg wieder aufleben lassen, der ihr und ihrem Bruder in ihrer Kindheit besonders aufregende Erlebnisse ermöglichte. Unverzeihlich findet sie im Rückblick, dass sie den Kontakt zu einem ihrer liebsten Verwandten einfach hatte einschlafen lassen. Je weiter die Gedanken der Frau sich der Gegenwart nähern, umso deutlicher wird die leichte Behinderung des Onkels, die zu seiner Isolierung beigetragen haben könnte. Mit dem letzten Satz erschließt sich erst, warum der Onkel nicht mehr allein leben kann. Auch in "Schnee" ist eine Beziehung zu klären zwischen zwei Frauen, die sich einmal näher standen als in der Gegenwart. "Unter Wasser" führt in den Mikrokosmos zweier Kinder, die miteinander eine eigene Sprache entwickelt haben.

Weitere Geschichten des Bandes folgen jungen Frauen an ihre Studien- und Praktikumsorte. Einsamkeit in fremden Städten und Zugfahrten über europäische Grenzen hinaus stehen in ihrem Mittelpunkt. "Das weiße Meer" baut dazu den Blick von außen durch die Fenster ins Innere der Wohnungen auf; denn die Erzählerin flüchtet vor den Marathon-Telefongesprächen ihrer Mitbewohnerin stets auf das Baugerüst an ihrem Haus. Ihre Geschichte und die von Herrn Samuel, Ella, Leo entwickelt sich rückwärts. Das Weiße Meer, das dem Erzählband den Titel gibt, liegt nördlich von Archangelsk am Rande der Barentsee. Sourliers Figuren reisen nicht auf der Landkarte oder mit Google Earth, sie suchen die Städte ihrer Träume nach dem Klang ihrer Namen aus. Berlin, wo die Autorin durch ein Arbeitsstipendium an ihrem Buch arbeiten konnte, liegt am Mittelpunkt der West-Ost-Route, auf der einge von Sourliers Reisenden unterwegs sind.

In Sourliers Geschichten haben mich zunächst ihre reisenden Figuren angesprochen. Das Reisen in die eigene Vergangenheit innerhalb von Kurzgeschichten und die unverwechselbare Sprache der 1979 geborenen Autorin weckten dann meine Neugier, ob Stefanie Sourlier eines Tages wohl einen Roman verfassen wird.