Rezension

Alles verschlingende Trauer

Durch die Nacht - Stig Sæterbakken

Durch die Nacht
von Stig Sæterbakken

Bewertet mit 3.5 Sternen

Seit Ole-Jakob sich das Leben genommen hat, ist um Karl Meyer und seine Familie ständig Nacht. Auch Ole-Jakobs Zimmer spricht mit schwarzer Schrift an der Decke und einer defekten Spielkonsole eine düstere Sprache. Dass andere Menschen einfach weiterleben können wie bisher, wirkt  auf Karl wie Hohn. Seine Frau Eva hat nur noch Kraft für ihren Beruf, nicht mehr für ihre Angehörigen; die Tochter Stine verstummt. Mittels akribisch genauer Beobachtungen verarbeitet der verwaiste Vater seine alles verschlingende Trauer. Karls Gedanken kreisen darum, ob seine Affäre mit Mona den Tod seines Sohnes verschuldet haben könnte. Linderung verspricht ihm der Ex-Mann seiner Schwester, ein Autor aus der Slowakei. Er kann ein Haus tief im Landesinnern vermitteln, das angeblich extremste Ängste und Gefühle heilen soll. Jeder würde dort „das bekommen, was er nicht haben will“.

In Rückblenden erinnert  Karl sich an die Anfangszeit seiner Beziehung zu Eva und an seine Gefühle als junger Vater. Mit Eva heiratete er damals eine ernsthafte, reife Person, die bereits ein Bild ihres zukünftigen Zuhauses im Kopf trug - der komplette Gegensatz zu Karls jugendlichem Chaotentum.  Karl analysiert die Entwicklung seiner Beziehung zu Frauen sehr sachlich. Als Leser könnte man sich fragen, warum ein klar strukturiert denkender Mann wie er es mit seiner Familie so weit kommen lassen konnte. Mit einer beinahe  toxischen Kommunikation scheint das Paar seine Krise erst herbeigeredet  zu haben. Ein Blick auf Ole-Jakob, der allein in seinem Zimmer Tabletop-Figuren setzt, hätte die Beteiligten längst aufrütteln müssen. Doch Evas Sorgen um Ole-Jakob hatte Karl abgewimmelt, obwohl auch er sich um seinen Sohn sorgte. Ein Aussprechen des Problems wäre für Karl vermutlich zugleich ein Eingeständnis seiner Schuld gewesen. Grübelnd, ob in Ole-Jakobs Leben ein Bruch zu bemerken gewesen ist und ob dessen Probleme über durchschnittliche Pubertätskonflikte hinausgingen, zweifelt Karl zunehmend an seiner Erinnerung und weckt beim Leser Befremden über seine Ichbezogenheit. Die Antwort, warum die Verantwortung für seinen Sohn hinter einer Affäre zurückstehen musste, bleibt Karl m. A. nach schuldig.

Stig Sæterbakken nahm sich mit 46 Jahren das Leben. In „Durch die Nacht“ beobachtet er höchst sensibel den Trauerprozess eines Mannes, der schon lange über seine Ehe, seine Affären und seine heranwachsenden Kinder hätte nachdenken müssen. Dabei erkundet der Autor jede Verästelung der Gefühle seines schwierigen Protagonisten. Sæterbakkens Icherzähler durchlebt nach meinem Empfinden im Begreifen dieses  Selbstmords und seines Versagens als Vater nur eine geringfügige Entwicklung und wirkt genau darin absolut glaubwürdig. Als Chronik eines Trauerprozesses aus Sicht eines Mannes ist „Durch die Nacht“  sicher ein bemerkenswertes Buch. Weil Ole-Jakobs Probleme eine so geringe Rolle spielen, konnte es mich jedoch nicht völlig überzeugen.