Rezension

Alt werden und dabei zufrieden sein?

Alt werden, ohne alt zu sein - Rudi Westendorp

Alt werden, ohne alt zu sein
von Rudi Westendorp

Bewertet mit 5 Sternen

Nachdem der Mensch sich fortgepflanzt hat, wird sein Körper nicht mehr benötigt und könnte wie eine Verpackung entsorgt werden. Rudi Westendorp vertritt die nüchterne Ansicht, dass es sich beim Altern um das Versagen komplexer Systeme handelt, die wissenschaftlich kaum anders zu untersuchen sind als ein Flugzeugabsturz. Der niederländische Mediziner hat sich mit bevölkerungspolitischen Aspekten des Alterns befasst, mit der erblichen Disposition zur Langlebigkeit und mit der Zufriedenheit alter Menschen mit ihren Lebensumständen. Wer sich für die Bevölkerungsentwicklung interessiert, hat sicher von einigen angeführten Erkenntnissen bereits gelesen. Warum Frauen auch nach den Wechseljahren durch Unterstützung der jüngeren Generation das Überleben ihrer Art sichern, oder der Einfluss von Notzeiten auf die Lebenserwartung. Statistik und Epidemiologie liegen sicher nicht jedem Leser, doch Westendorp versteht seine Gedanken äußerst eingängig zu formulieren.

Unsere Lebenserwartung setzt sich aus genetischer Disposition, Umgebungseinflüssen und einem Zufallsfaktor zusammen. Geheimnisse für ein langes Leben oder Wundermittel konnte der Autor bisher nicht entdecken. Westendorp vermittelt in originellen Bildern, welchen sozialen Problemen sich eine Gesellschaft aufgrund steigender Lebenserwartung zukünftig stellen muss. Die Bürde einer alternden Bevölkerung bezeichnet er als „grauen Druck“, während der „grüne Druck“ in den ersten Lebensjahren geburtenstarker Jahrgänge entsteht. Die letzen Lebensjahre vor dem Tod, bis als Summe minimaler Schäden das „System“ schließlich versagt, nennt Westendorp das „Ausfransen des Lebenssaums“. Von Medizinern fordert er einen Perspektivwechsel von rein medizinisch-technischen Erklärungen für Krankheiten hin zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit im Alter und zu gemeinsamen Entscheidungsprozessen von Arzt und Patient. Westendorps Buch verdeutlicht u. a. das Disability Paradox, die Situation betagter oder kranker Menschen, die sich trotz gesundheitlicher Einschränkungen als zufrieden bezeichnen, wie auch „Ageism“, das Vernachlässigen älterer Menschen in der medizinischen Forschung. Zukünftig werden Anpassungsprozesse zum Lebensende größere Aufmerksamkeit von Gesundheitspolitikern und Medizinern erfordern als die reine Organmedizin Patienten bisher zu bieten hatte.

Westendorps Blick ist charakteristisch für einen Niederländer. Mit der in unserem Nachbarland üblichen Selbstverständlichkeit ist er gewohnt, öffentlich über das Lebensende zu diskutieren. Das Abwälzen der Pflege betagter Menschen auf deren Kinder hält der Autor dagegen für typisch deutsch und für wenig zukunftsweisend. Sein teils deprimierendes, teils trockenes Thema vermag der Autor so lebendig und bildhaft zu vermitteln, wie er vermutlich auch seine Medizinstudenten für die Geriatrie begeistern konnte.