Rezension

Anders als erwartet und trotzdem oder gerade deswegen richtig gut.

Alles, was wir geben mussten - Kazuo Ishiguro

Alles, was wir geben mussten
von Kazuo Ishiguro

An dieses Buch kann man durchaus mit falschen Erwartungen herangehen und trotzdem äußerst positiv überrascht werden. Ich bin von einem hochspannenden Wissenschaftsthriller um das Geschäft mit den Organen von Klonen, die als Waisen in einem Heim aufwachsen, ausgegangen. Grundsätzlich beschreibt dies schon die Handlung, nur ist dieses Buch etwas ganz anderes und viel mehr als „nur ein Thriller“. Dass die Ich-Erzählerin Kathy und damit eine der drei Hauptfiguren des Buches, wie auch Ruth und Tommy, in einer Art Internat für sogenannte „Spender“ mit dem Wissen eine solche (Organ-)Spenderin zu sein aufwächst, ist hier nur die Hindergrundgeschichte. Haupthemen des Buches sind vielmehr das Erwachsen werden unter besonderen Bedingungen, die Beziehungsstrukturen zwischen Gleichaltrigen und die Komplexität von Freundschaft und Liebe.

Ishiguro stellte die großen Fragen des Menschseins und dies in meisterhafter Art und Weise. Die Leserin erfährt in Form eines memorierten Berichtes von Kathy von ihrem Aufwachsen als sogenannte „Kollegiatin“ unter Ihresgleichen und nähert sich auch nur in der Geschwindigkeit ihres Erkenntnisprozesses als Kind bis zur jungen Erwachsenen ihrem wahren Zweck in der Welt als geklonte Organspenderin an. Dies kann mitunter ein bisschen langatmig wirken, minderte für mich jedoch abschließend nicht stark die Freude an der Lektüre. Wenn man sich nämlich auf die leisen Zwischentöne konzentriert, mit denen Ishiguro Verhaltenskodizes zeichnet und zwischenmenschliche Beziehungen darlegt, wird dieses Buch zu einem feinen Psychogramm. Zum Ende hin bekommt das Buch dann doch noch einen starken Spannungsbogen, der die zunächst „enttäuschte“ Erwartung an den Wissenschaftsthriller wieder wett macht.

In diesem Buch lernt man nicht viel über Klonverfahren oder Lebendorganspende, dafür aber unglaublich viel über das Miteinander im Aufwachsen und durchaus auch eigene Verhaltensmuster als Kind und Jugendliche. Ein hochklassiges Buch, auf das man sich völlig offen einlassen sollte. Man wird mit dem hochklassigen Werk eines Weltliteraten belohnt