Rezension

Anthologie zur aktuellen Situation Frankreichs, deren nicht nur literarische Texte politisches Interesse voraussetzen

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von Olga Mannheimer

Bewertet mit 5 Sternen

Von einer Länder-Anthologie würde ich spontan einen vielfältigen Strauß von Kurzgeschichten erwarten. „Frankreich erzählt“ wirkt auf den ersten Blick bereits nicht wie eine Sammlung belletristischer Texte, sondern wie ein Reader für Schule oder Studium. Die Texte befassen sich mit der aktuellen politischen Situation in Frankreich, der Sinnkrise einer Nation und ihrer Überfremdungsangst, mit Gewalt, Terrorismus, den Einwohnern abgehängter Banlieues und ebenso abgehängter Dörfer in der Provinz.

Die Texte sind zwischen 1754 und 2017 entstanden. Ansichten von gebürtigen Franzosen und Einwanderern spiegeln Integration und Ausgrenzung aus beiden Perspektiven. Es geht um den Begriff der Nation, soziale Schichten, um Identität und was einem die französische Sprache bedeuten kann. Prominente Autoren wie Houellebecq, Barbery, Eribon und Edouard Louis kommen ebenso zu Wort wie der Rapper Kamini (Zantoko), etablierte Immigranten wie Andrej Makine oder eine Stimme aus Quebec. Sehr lesenswert und exemplarisch für die aktuelle Situation fand ich Gilles Kepels „Lunel als Paradigma“ aus Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa, das die Verknüpfung aufzeigt zwischen dem Niedergang einer Region, zunehmender Distanzierung von der Gesellschaft, die den Einzelnen versorgt, und gleichzeitiger Entstehung von Terrorismus. Thema sind u. a. die weiße, christliche, gebildete Elite und die Ausgrenzung von Zuwanderern durch soziale Schichten, die den christlichen Glauben als Voraussetzung von Integration zu betrachten scheinen. Mehrere Erzählungen befassen sich mit den Schnittstellen, an denen übersetzt, vermittelt und geholfen werden muss, und jenen Personen, die mit Dienstleistungen für Immigranten ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sylvain Tesson beschreibt in „Aus der Wüste“ Profiteure, die ihre Landsleute einschleusen, ihnen Wohnung und Arbeit vermitteln und sie zur Kasse bitten. Shumona Sinha zeigt in „Kalis Zunge“ die Sprachlosigkeit zwischen zwei Kulturen auf, wenn z. B. jemand, der ein eignes Geschäft hat, „nicht arbeitet“ und dem Dolmetscher damit ein unlösbares Problem bereitet.

Insgesamt kommen hier scharfsinnige Beobachter zu Wort, die sich nicht scheuen, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Ein mit bibliografischen Angaben sorgfältig editiertes Buch, mit zwei Schriftfarben gestaltet – das politisch interessierte Leser voraussetzt.