Rezension

Auftauchen, abtauchen...

Auftauchen - Jennifer Haigh

Auftauchen
von Jennifer Haigh

Bewertet mit 4 Sternen

Allgemeines zum Buch:
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"Auftauchen" umfasst 521 Seiten und gliedert sich in vier Teile sowie mehrere Kapitel. Die Kapitel sind recht umfangreich, und daher in Abschnitte unterteilt.

Teil 1 des Buches spielt im Jahr 1976, Teil 2 21 Jahre später, Teil 3 spielt im Jahr 1998 und Teil 4 ist mit keiner Jahreszahl überschrieben, allerdings lässt sich aus den Andeutungen im Text entnehmen, in welchem Jahr dieser Teil spielt.

Geschrieben ist das Buch in der Vergangenheitsform aus der Sicht eines allwissenden Erzählers.

Der Titel des Originals lautet "The Condition".

Meine Meinung zum Buch:
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"Auftauchen" hat mich während des Lesens zwar nur wenige Tage beschäftigt, doch es entfaltet auch nach dem Lesen noch seine Wirkung. Denn es hat mich gefangen genommen und noch nicht wieder losgelassen.

Der Beginn des Buches, dessen erster Teil, ist zeichnet eine wünschenswerte Familienidylle. Im "Haus des Kapitäns", auf Cape Cod, treffen sie sich: Paulette mit ihren drei Kindern Gwen, Scott und Billy, Paulettes Schwester Martine und ihr Bruder Roy mitsamt Familie. Es ist eine Tradition, den Sommer in diesem Haus zu verbringen, das mit seinen neun Schlafzimmer genügend Platz für fröhliche Erinnerungen bietet.

Doch es zeigen sich erste Kratzer an der idyllischen Oberfläche: Wieso will Paulette ihren Mann Frank nicht dabei haben?

"Worüber werden wir den ganzen Tag reden? Was, um Himmels willen, werden wir tun?"

Und wieso will auch Frank eigentlich gar nicht nach Cape Cod? Und wieso steht die 13jährige Gwen ihrer gleichaltrigen Cousine in der körperlichen Entwicklung in so vielem nach?

Eine unterschwellige Spannung liegt in der Luft und der Sommer 1976 wird der letzte Sommer sein, den die Familie unbeschwert verbringt. Danach nehmen folgenschwere Ereignisse ihren Lauf. Doch inhaltlich möchte ich eigentlich nicht mehr verraten - lest am besten selbst.

Sehr interessant finde ich den Aufbau des Buches: Mit jedem Kapitel wechselt der Fokus des allwissenden Erzählers und die Person, der er sich widmet. Während zunächst Paulette tiefgründig beleuchtet wird, ist im nächsten Kapitel Frank die Hauptperson, um im darauffolgenden Kapitel die Hauptrolle an Scott oder Billy abzugeben. Von jeder Person wird ein umfassendes Bild gezeichnet, nicht zuletzt durch viele Rückblicke in die Vergangenheit des jeweiligen Charakters. Einige Rückblicke waren mir persönlich dabei zu umfassend, wodurch der Lesefluss etwas gestört wurde und einige Längen entstanden sind. Aber letztlich ist jeder Rückblick sehr aufschlussreich und notwendig, um die jeweiligen Personen verstehen und ihr Handeln nachvollziehen zu können.

Allein Gwen wird nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl sie doch anhand des Klappentextes als eine der wichtigsten Personen des Buches dargestellt wird. Sie rückt erst im zweiten Teil des Buches etwas mehr in den Vordergrund. Doch auch hier wird ihr noch kein eigenes Kapitel gewidmet, sondern sie wird nur in den Kapitel, in deren Mittelpunkt andere Familienmitglieder stehen, erwähnt. Ihre Krankheit wird beschrieben mitsamt der Folgen für Gwens Alltag und den ihrer Familie. Mit 34 Jahren ist Gwen gerade einmal 1,46 m groß, mit 13 Jahren hat sie aufgehört zu wachsen. Ihre Pubertät ist komplett ausgeblieben, sodass sie kaum einen Brustansatz oder andere weibliche Körpereigenschaften zeigt.

So unterschiedlich die Charaktere sind, so unterschiedlich ist auch die Reaktion auf Gwens Krankheit. Während ihr Vater sofort sämtliche wissenschaftliche Reportagen nach Heilmitteln durchforstet, reagiert Paulette mit Mitleid und Besorgnis. Diese Empfindungen ziehen sich auch durch das komplette Buch und der Autorin ist es gelungen, ein sehr authentisches Bild von ihren Charakteren zu zeichnen. Denn deren Verhalten entspricht immer ihrem Gemüt, ist stets nachzuvollziehen und zur jeweiligen Persönlichkeit passend.

Nur wenige Charaktere waren mir sympathisch, allen voran Billy, der als Homosexueller ein zurückgezogenes Leben führt, um sich nicht outen zu müssen. Gwen war mir ebenfalls sehr sympathisch und ich habe ihre Entwicklung interessiert verfolgt.

Weniger gemocht habe ich dagegen Frank, der Wissenschaftler aus Leidenschaft ist, der aber gleichzeitig immer wieder Verlangen danach verspürt, seine männlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Zwar wandelt er sich zum Ende des Buches hin etwas mehr ins Positive, allerdings hat das an meiner Meinung über ihn nichts geändert. Für mich bleibt er ein von Wissenschaft und Befriedigung besessener Mensch, für den ich keine Sympathie aufbringen konnte.

Auch Paulette gegenüber konnte ich nur wenige positive Gefühle entwickeln. Aber letztlich kommt es gar nicht darauf an, welche Charaktere man mag und welche man weniger mag. Entscheidend ist vielmehr, sich einfach mit dem Alltag der Familie auseinander zu setzen und ihrer Entwicklung zu folgen.

Die Handlung des Buches ist nicht spannend, aber dennoch nimmt sie mich gefangen. Es ist interessant, die Entwicklung der Charaktere zu verfolgen und es gibt einige überraschende Momente, die mich am Lesen gehalten haben. Besonders im dritten Teil des Buches nimmt die Handlung an Fahrt auf, bis sich die Ereignisse fast überschlagen. Die Familie muss einige Schläge hinnehmen und verkraften. Schließlich zeigt sich, welche Schäden jahrelanges Schweigen anrichten kann. Denn es hat nie eine ausreichende Verständigung unter den Familienmitgliedern gegeben. Probleme wurden unter den Tisch gekehrt und ignoriert, oft haben die Eltern vom Leben ihrer Kinder nur über Dritte erfahren.

Das Buch verlangt von seinen Lesern ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Es lässt sich nicht nebenbei lesen, dafür ist es zu tiefgründig und der Stil der Autorin doch zu intelligent. Aber wer sich davon einnehmen lässt, der bekommt sehr eindringlich eine Familiengeschichte erzählt, die dramatisch, melancholisch, stimmungsvoll und doch auch liebevoll ist.

Es gibt ja diesen Spruch "Freunde kann man sich auswählen, seine Familie dagegen nicht." Aber dieses Buch zeigt, dass selbst die unterschiedlichsten Charaktere eine Familie eregben können, zu der man einfach gerne dazugehört.

Besonders zeigt sich dies auf den letzten Seiten des Buches, die sehr intensiv sind und letztlich den Glauben an die Kraft und den Zusammenhalt einer Familie aufrecht erhalten.

Zusammengefasst ist "Auftauchen" also ein Studie einer Familie. Verschiedenste Charaktere erzeugen verschiedenste Reaktionen auf Ereignisse, deren Auslöser meist Gwen ist. Gwen, die nicht aus ihrer Haut kann, die einfach nur versucht, ein lebenswertes Leben zu führen.

Mein Fazit:
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"Auftauchen" ist ein sehr intensives und unbedingt lesenswertes Buch über Familienzusammenhalt und die Kraft der Veränderung.