Rezension

Augenhöhe

Hool
von Philipp Winkler

Bewertet mit 5 Sternen

Seit Heiko „zum zweiten Mal durchs Abi gerasselt “ ist, arbeitet er im Fitnessstudio seines Onkels, Treffpunkt für Rocker und Umschlagplatz illegaler Steroide. Heikos Vater ist Alkoholiker, die Mutter lange geflüchtet; seine Schwester hat sich in ein bürgerliches Leben gerettet und versucht immer wieder, die Familie zusammen zu bringen – ohne Heiko, denn der weiß genau, „Dass das keine Familie ist. Und auch nie eine war.“ Nun wohnt er auf dem verfallenden Hof von Axel, der sein Geld mit Hundekämpfen verdient. Von seiner heroinabhängigen Freundin hat er sich getrennt, was ihn nicht hindert, ganze Nächte im Auto vor ihrer Wohnung zu wachen. Materiell und emotional heimatlos, ist seine einzige Orientierung die Fankultur von Hannover 96 und der Ehrenkodex und das Wir-Gefühl seiner Kumpels. Heiko hat kein anderes Ziel, als Hannover in der Welt der Hools „auf die Karte zu setzen.“

Das geschieht durch Matches, zu denen sich die Hools verabreden; gleich auf den ersten Seiten wird so ein „Match“ zwischen Heikos Gruppe und Kölner Hooligans beschrieben. Was so harmlos klingt, bedeutet spritzendes Blut, splitternde Zähne und brechende Knochen. Dankbar darf man sein für die Gewaltszenen, die nahegelegen hätten, die der Autor aber NICHT beschrieben hat; Winkler schildert die Gewalt, die dramaturgisch notwendig ist, nicht mehr und nicht weniger.

Der Autor lässt Heiko seine Geschichte in der Ich-Form und im Präsens erzählen; das macht es schwer, sich der Figur zu entziehen; nicht, dass ich das gewollt hätte. Seine Sprache ist drastisch, unglaublich dicht und präzise, wenn auch manchmal zu poetisch für jemanden, der es schwierig findet, „zu sagen, was in einem vorgeht und dieser ganze emotionale Mist.“ In einem Interview sagte Winkler, das sei die größte Herausforderung des Romans für ihn gewesen: Die Balance zwischen authentischer Sprache und literarischem Anspruch. Gelungene Beispiele sind Wortschöpfungen wie „himmelhochgröhlend“ oder Sätze wie diese: „ Die Hitze der Tage ist so schwer und drückend, dass sie nachts einfach zu Boden kracht und bis zum nächsten Morgen tot daliegt, nur um dann wieder so richtig loszulegen.“ Die Vergangenheit wird durch Heikos Gedanken Stück für Stück eingeflochten; das ist fein konstruiert. Gleich zu Anfang wirft ein Halbsatz ein Rätsel auf, das den ersten Spannungsbogen setzt.

Nachdem ein Match furchtbar schief gegangen ist, beginnt die Gruppe auseinanderzubrechen; die Freunde driften ab ins Bürgerliche.  Heiko fühlt sich im Stich gelassen, denn „Das hier, das hier habe ich. Mehr nicht.“ Und: „Nachgeben is´nich“, das hat er früh gelernt. Der zweite Spannungsbogen entsteht aus der Frage, ob Heiko nicht doch einen anderen Weg für sich findet – der durchaus denkbar wäre, denn Heiko ist keine Dumpfbacke, sondern eine sehr komplexe, differenziert gezeichnete Figur. Für das Ende hat sich Winkler  - ironisch gebrochen, dennoch anrührend - eine Version des in den Sonnenuntergang reitenden Revolverhelden ausgedacht.

Der Roman ließ mich gleich ein ganzes Sortiment Vorurteile entsorgen. Nein, Hooligans sind NICHT zwangsläufig rechts; sie rekrutieren sich NICHT ausschließlich aus bildungsfernen Schichten; sie sind NICHT bar jeder Moral und NICHT zwangsläufig verroht. Richtig gelesen: Bei Heiko Kolbe habe ich mehr Anstand gefunden als bei so manchem Bildungsbürger, und das ist Winklers großartiger Schreibe zu verdanken: Sie vermeidet Herablassung, bewirkt Augenhöhe, ermöglicht es, die Hooligans ernst zu nehmen, ohne deshalb ihr Tun zu billigen; macht ihr Verhalten nachvollziehbar, ohne es zu entschuldigen.

„Hool“ hat Tempo, Tragik, Spannung, Humor; macht traurig, macht nachdenklich, weitet den Blick. Uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen sprachmächtigen Erstling, dem ich den Buchpreis von Herzen gegönnt hätte!