Rezension

Aus unterschiedlichen Entfernungen ...

Wo das Gestern geblieben ist -

Wo das Gestern geblieben ist
von Michael Hillen

... sehen die Gedichte Michael Hillens auf das Vergangene, das noch immer zu uns spricht

Der Bonner Autor Michael Hillen, Jahrgang 1953, hat nach einer Ausbildung in einem sonderpädagogischen Verlag als Korrektor, Lektor und Bibliothekar gewirkt. Sein literarisches Schaffen widmet er der Lyrik, und mit „Wo das Gestern geblieben ist“ hat er Ende 2021 sein bislang neuestes Werk vorgelegt.

Die Texte rücken scheinbar in ihrer Abfolge aus der Vergangenheit an die Gegenwart heran: der Gedichtband besteht aus drei in etwa gleich gewichteten Zyklen, „Geruch aus fernen Tagen“, „Aus mittlerer Entfernung“ und „Heute noch“, wobei die Großschreibung der Substantive nur in den Kapiteltiteln zu finden ist – die Texte selbst sind durchweg in Kleinschreibung gehalten, reimlos und ohne feste äußere Form, sie verlassen sich ganz auf ihre innere Stimmigkeit und ihre freien Rhythmen. Die Sprache ist im wesentlichen die des Alltags, und beim Anlesen kommt schnell so ein gewisses 1970er-Jahre-Gefühl auf, jene Zeit also, in der Gedichte nach langen hermetischen Jahrzehnten endlich wieder einmal „lesbar“ wurden und sich von der hehren Kritik im Gegenzug als Parlandolyrik abqualifizieren lassen mussten. Die besseren von ihnen führten immerhin zur Erschließung neuer, junger und engagierter Leserschaften und Nachahmern, die nicht selten ihrerseits in den folgenden Jahrzehnten weiterwirkten und zu jenen mannigfaltigen Ausdrucksformen fanden, denen wir uns heute gegenüber sehen.

Diese Patina steht den Gedichten Michael Hillens gut, und sie passt wohl besonders zu den Kindheits- und Jugenderinnerungen des ersten Teils, mit denen sich der Autor in kleinen, pointierten Miniaturen auseinandersetzt und in denen sich Poetisches und Erzähltes gleichsam in Harmonisch-Moll vermischen. Dass ihm dies nie zu gefühlig gerät, liegt nicht nur an Hillens dichterischer Erfahrung, sondern ganz konkret an der bewussten Skizzenhaftigkeit seiner Texte. Hier wird nichts lang und breit ausgemalt, sondern auf den Punkt gebracht: „ein wunder / der mond / unnahbar fern / den wir aufgehen sahen / mit claudius' augen.“ Das Weiterspinnen solch angerissener Bezüge überlässt Michael Hillen seinen Lesern.

Im zweiten Teil, der weniger stringent auf einen Lebensabschnitt fokussiert erscheint, erwartet die Leserschaft eine Art kultureller Querschnitt aus dem vergangenen und dem vergehenden Leben. So finden sich verschiedentlich Verweise auf Philosophie, bildene Kunst und Literatur (etwa auf den unkonventionellen kolumbianischen Denker Nicolás Gómez Dávila, den deutschen Maler Karl Otto Götz oder Victor Hugo), aber auch auf Technisches und Alltagskulturelles, mit deren Hilfe Hillen prägnante Verhaltens- und Sichtweisen gegenüber dem Leben illustriert, die nicht unbedingt seine eigenen sein müssen, die er aber in seiner lyrischen Weltsicht für werthält mitbedacht zu werden. Dávilas Aphorismus „Unnütz, jemandem einen Gedanken erklären zu wollen, dem eine Anspielung nicht genügt“ könnte geradezu als Motto für die implizite Schaffensweise des Autors stehen. Für das Gedicht „sauberes quartier“ über Dávila wählt Hillen jedoch das nicht minder provokante Zitat „Traurig wie eine Biographie“.

Auch dies wäre so etwas wie eine freilich sehr einseitige Kürzestrezension seiner Texte in dem vorliegenden Buch. Denn allein traurig sind die Texte nicht; sie zeichnen sich vielmehr durch eine feine Melancholie und einem gehörigen Schuss Ironie aus.

Es sind nicht selten die kleinen, aber (über)lebenswichtigen Beobachtungen und Verhaltensweisen, die Hillen in seinen Texten thematisiert und die er in lakonischer Kürze zuzuspitzen weiß wie beispielshalber in dem Titelgedicht des dritten Teils, welches auf sehr eindrückliche Weise von einem Geflüchtetenschicksal erzählt: „heute noch // baum, der zu dürr / schilf, das zu niedrig / nacht, die zu gleißend – // heute noch, jahre / nach seiner flucht, / mißt er die dinge / für den bruchteil / eines augenblicks / an ihrem vermögen / ihn zu verbergen“. So sind Krieg und Flucht ebenso traurig-aktuelle Themen des dritten Kapitels.

Ein Stilmittel Hillens ist die poetische Umdeutung der bereits erwähnten gängigen Alltagssprache, die dem beschriebenen Geschehen jenen gleichermaßen ironischen wie auch melancholisch-nachsinnenden Charakter verleiht wie etwa im Gedicht „überhand // seit jenem letzten besuch / die zehrende krankheit / bloß noch in den ärmeln seines anzug sehn / die ihm jetzt reichen / bis zu den fingerspitzen. / ein bild / das überhand nimmt.“

Der Titel des Gedichtbandes „Wo das Gestern geblieben ist“ impliziert, dass Michael Hillen darauf auch eine Antwort hat. Dass es sich auf seine Weise erhält, dieses Gestern, in unseren Gedanken, inneren Rückblenden und Reflexionen, in unseren Tagebucheinträgen und unseren Briefen und E-Mails, ja sogar eine Weile noch in den nicht gelöschten Chatverläufen unserer Kurznachrichten, daran kann kein Zweifel bestehen. Wo es jedoch im Falle von Michael Hillen und zum Glück für seine Leserschaft vor allem geblieben ist, sind seine Gedichte, die das weitertragen, was gute Poesie schon immer ausgemacht hat: aus dem persönlichen Erleben und Erfahren Verse zu machen, in denen andere sich wiederfinden oder auch sich an ihnen reiben können.