Rezension

Auseinandersetzung mit dem Vater und dem Vatersein

Der nasse Tod - Kenzaburô Ôe

Der nasse Tod
von Kenzaburô Ôe

Bewertet mit 3 Sternen

Kenzaburô Ôes lässt sein Alter Ego, den Schriftsteller Kogito Choko, circa 1985 gemeinsam mit seinem erwachsenen Sohn auf seine Heimatinsel Shikoku reisen, um am Roman über seinen Vater und dessen ungeklärten Tod zu arbeiten. Als Leser könnte man dem zukünftigen Roman praktisch bei seiner Entstehung zusehen. Die Figur Kogito wurde als Kind Kogi genannt und kommunizierte mit einem imaginären Gefährten Koogi. Jahre nach dem Tod der betagten Mutter will die literarische Figur nun für dieses Romanprojekt Unterlagen des Vaters aus einem roten Lederkoffer auswerten. Wie der Autor Ôe hat auch sein Alter Ego einen behinderten Sohn, im Roman Akari (Ôes Sohn Hikari wurde 1963 geboren). Wie Ôes Sohn zeigt auch der fiktive Akari Zeichen von Autismus, darum duldet er keine Abweichung von der täglichen Routine. Bei dem Besuch auf der Insel schreit Kogito Choko (rund 70 Jahre alt) seinen Sohn zum ersten Mal - überfordert - an und muss sich der Grenzen seiner Kräfte bewusst werden. Die Auseinandersetzung mit seinem Vater müsste demnach zur Reflektion des eigenen Alterns führen und in Pläne münden zur zukünftigen Versorgung des behinderten Akari. Im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass zuhause in Matsuyama Chokos Frau an Krebs erkrankt ist und die Reise von Mann und Sohn auch ihrer Entlastung dient.

Choko arbeitet an einer Inszenierung mit der Theatertruppe Die Caveman (Die Theaterszenen fand ich wenig interessant, daher der Punktabzug) und vollzieht in Rückblenden Erlebnisse seiner Kindheit nach. Für westliche Leser interessant sind hier Szenen, wie der Großvater Seidelbast züchtete zur Papierherstellung, weil er mit schlechten Zeiten rechnet, oder der Einfluss einer Freundin der Mutter, der „Tante aus Shanghai“. Da Chokos Vater mit der Ultrarechten Japans sympathisierte, hätte ich mir eine tatsächliche Auseinandersetzung des Sohnes mit der politischen Einstellung seines Vaters gewünscht. Soll das 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs alles gewesen sein? Statdessen beschränkt sich der Text auf eine kurze Szene im Yasukuni-Schrein und setzt voraus, dass Leser mit der japanischen Geschichte vertraut oder bereit sind, sich in sie einzuarbeiten.

Kenzaburô Ôe schildert einen alternden Schriftsteller, der sich in seinen vermutlich letzten Roman mit seinem Vater auseinandersetzen will. Sein eigenes Altern und seine Ängste vor dem Scheitern werden überschattet von Krankheiten, Todesfällen und dem aufreibenden Leben mit einem behinderten Sohn. Die Figur Vater eines Behinderten entwickelt sich in Ôes Werk nicht linear zur Wahrnehmung von Behinderung weltweit. Wurde Ôe mit der Veröffentlichung von „Eine persönliche Erfahrung“ noch zur Leitfigur betroffener Väter, weil er die Behinderung seines Sohnes nicht vor der Öffentlichkeit verbarg, warfen „Stille Tage“ und „Licht scheint auf mein Dach“ in westlichen Ländern u. a. die Frage auf, warum aus Ôes Sicht allein Mütter und Schwestern von Behinderten ihr Leben zu opfern haben. Im vorliegenden Roman ist es folgrichtig die schwer erkrankte Mutter, die darauf drängt, dass sie sich über Akari „Gedanken machen“.

„Der nasse Tod“ schließt an die biografischen und halbbiografischen Werke Ôes an, u. a. sollte man zum Verständnis in der Reihenfolge der Veröffentlichung lesen:
Eine persönliche Erfahrung (1994), (Kojinteki na taiken, 1964)
Stille Tage (1994), (Shizuka na seikatsu, 1964), 1995 verfilmt
Licht scheint auf mein Dach (2014), (Kaifukusuru Kazoku, 1994)