Rezension

Außerordentlich, es hat alles, was ein guter Kriminalroman braucht

Beim Leben deines Bruders - Peter May

Beim Leben deines Bruders
von Peter May

Bewertet mit 5 Sternen

Der Kriminalroman von Peter May "Beim Leben deines Bruders" führt auf die Hebrideninseln vor Schottland, vor allem nach Lewis. Es ist nicht der erste Band, bei dem Fin Macleod eine führende Rolle spielt, aber das ist kein Grund von der Reihenfolge nicht doch abzuweichen, denn geschickt platzierte Rückblenden lassen einen nicht "im Regen stehen". Überhaupt ist der Schreibstil und die Dramaturgie, Reihenfolge und Verknüpfung zweier Erzählstränge sehr spannend und lässt einen beim Lesen nie im Stich.
Die Verwicklungen der Familie und Freunde rund um Fin Macleod überraschen einen immer wieder und lassen sehr viel Spielraum für Vermutungen. Dabei hat der Roman neben dem eigentlichen Mordfall zwei herausragende soziale Themen, neben vielen weiteren, die dabei nicht minder starken Einfluss auf die Protagonisten haben.
Das eine ist die Behandlung von Kindern und Jugendlichen vor dem ersten Weltkrieg, wie sie wahrscheinlich in vielen Heimen in Europa geschehen ist. In Rückblenden wird erzählt, wie ein Junge und sein jüngerer Bruder in ein Waisenhaus verbracht wurden. Was sie dort erlebt haben ist nicht nur bedeutend für die Brüder, sondern auch für ein junges Mädchen, mit dem sich der ältere der beiden Brüder anfreundet. Der Ältere hat seiner Mutter versprochen, auf seinen kleinen, durch einen Unfall versehrten, Bruder aufzupassen, komme was wolle. Strenge, Armut, Hunger, Hass auf Katholiken zeichnen die Jahre im Waisenhaus und geprägt durch einen Vorfall mit einer am Ort ansässigen Familie beziehungsweise mit deren Söhnen. Bei einer gewagten Mutprobe kommt ein Junge ums Leben. War es ein Unfall?
Nach dem Vorfall werden "die Katholiken" verbannt, die Kirche verschleppt die Kinder zu Menschen, die sie als Arbeitssklaven nutzen, und nicht, wie die Kinder es sich erträumen, zu neuen Eltern. Allein die Schilderung der Umstände wäre schon genug für ein Buch, man ahnt, es kommt noch viel schlimmer.
Die zweite große Tragödie ist die Demenzerkrankung. Einmal in einer Familie angekommen, lässt sie sie hadern, verzweifeln, trauern und weinen. So ergeht es Marsaili, der Jugendfreundin von Fin, mit ihrem Vater. Die Demenz lässt ihn hinweggleiten in eine andere Welt, zu der die Familie keinen Zutritt hat. Wir, die Leserschaft allerdings schon. Der Autor führt uns in die Gedanken des Demenzkranken, die Gefühle, die ausbrechen, wenn er sich partout nicht erinnern kann, wer die Menschen um ihn herum sind, was sie von ihm wollen. Seine eigene Ehefrau hat nun genug, will ihn nicht mehr bei sich haben, nach so vielen Ehejahren, die Tochter soll sich kümmern.
Und da ist dann also noch der Mordfall. Eine Leiche wird im Moor geborgen, ist sie Jahrtausende alt oder eher jung? Zumindest dieses Rätsel ist schnell gelöst, weist der Körper eine Tätowierung von Elvis auf. Doch wer ist der Tote? Rein Zufällig steht fest, dass die DNA mit unserem an Demenz erkrankten Großvater zu tun hat. Alles weist darauf hin dass er der Täter sein könnte. Allerdings ist kein männlicher Verwandter bekannt und die Spurensuche beginnt. Hier kommt Fin ins Spiel, der seinen Job als Polizist nach einer Familientragödie, einem weiteren Erzählstrang, an den Nagel gehangen hat, um auf seine Heimatinsel zurückzukehren. Die örtliche Polizei bittet ihn um Hilfe, denn vom Festland droht ungewollte Verstärkung. Nur durch die Hartnäckigkeit von Fin beginnt nun eine Suche, die auf Rache, Liebe, Tragödie hinweist.
Ein spannungsgeladener Lesegenuss, der uns durch die liebevollen Beschreibungen der Umgebung, Wetterlagen inklusive, auf die Inselkette vor Schottland lockt. Ob wir nun unseren nächsten Urlaub dorthin buchen werden?