Rezension

Balancieren am Abgrund

Während des Sturms
von Scott Spencer

Bewertet mit 4 Sternen

Für die kleine Ruby ist Daniel, der Lebensgefährte ihrer Mutter, der Mensch, den sie am meisten liebt. Ein glücklicher Zufall für das Mädchen; denn Rubys Mutter wirkt nicht sehr interessiert an ihrer Tochter. Ein Morgen, an dem Daniel Ruby einmal nicht in den Kindergarten bringt, scheint unvorstellbar. Beim täglichen Weg in den Kindergarten verliebt sich Daniel in Iris, die Mutter von Rubys bestem Freund Nelson. Iris scheint in der kleinen Stadt weit und breit die einzige Schwarze zu sein. Als durch einen verfrühten Schneesturm die Straßen unpassierbar sind und im Ort der Strom ausfällt, verbringen Iris und Daniel eine leidenschaftliche Liebesnacht miteinander in Iris Haus. Iris führt mit ihrem Mann eine Wochenendbeziehung, weil sie offiziell zum Studium in der Stadt ist. Ihre Promotion betreibt sie jedoch eher unentschlossen und führt ein sorgenfreies, finanziell abgesichertes Leben. Dass Daniel Kate seine Liebe zu Iris gesteht, bringt wie ein Katalysator Unausgesprochenes zu Tage, das die Beziehung schon lange belastet hat. In der Folge eines Zwischenfalls mit einem Klienten, den Daniel erfolglos zu verteidigen suchte, sind Daniel und Kate aus New York in die Provinz gezogen. Kate unterstellt eine ganz andere Ursache für den Umzug und bringt als erste die "Rassismus-Karte" ins Spiel, die die Nation durch den gerade stattfindenden Prozess gegen O. J. Simpson beschäftigt. Als Europäer wird man sich vielleicht fragen, ob es nicht belanglos ist, welche Hautfarbe Iris hat. Neben der spannenden Frage, wie die beteiligten Erwachsenen mit der Situation umgehen und ob einer von ihnen auf Rubys Gefühle Rücksicht nehmen wird, entwickelt sich die Rassismus-Karte zum faszinierenden Mittelpunkt dieses Romans. Kate, die aus dem Süden der USA stammt, steht fest zu ihren unverrückbaren Ansichten, und selbst die Ehe zwischen den beiden Afroamerikanern Iris und Hampton kommt nicht ohne rassistische Untertöne aus. Scott Spencer steigert diese Spannung noch durch eine zweite Handlungsebene, in der Daniel und Iris Mann Hampton als Mitglieder einer Suchmannschaft im Zweier-Team zwischen vom Sturm entwurzelten Bäumen nach einer vermissten Frau suchen.

Allein die beklemmende Situation des Schneesturms mit dem folgenden Stromausfall wäre Stoff für einen Psychothriller. Plötzlich sind Menschen gezwungen, sich bei Kerzenlicht miteinander in einem einzigen Zimmer aufzuhalten, deren Beziehung zueinander höchst problematisch ist. Auch das Taktieren und Lavieren der beteiligten Paare, bevor jeder von ihnen die Katze aus dem Sack lässt, entwickelt sich höchst spannend. Eine verführerische Sprache, ein spannender Plot, fesselnde Charaktere - hier wirkt alles perfekt. Dennoch teile ich die Lobeshymnen der amerikanischen Medien über diesen Roman nur teilweise, weil Spencer sich zum Ende seines Romans von US-amerikanischer Melodramatik davontragen lässt, ohne die mich der Roman sicher stärker bewegt hätte.