Rezension

Bedenkenswertes zur Gefährdung der Demokratie

Der Kampf um die Demokratie - Arno Gruen

Der Kampf um die Demokratie
von Arno Gruen

Bewertet mit 4 Sternen

Das Motto, das Gruen seinem Buch voranstellt, hat programmatischen Charakter: Zeilen aus dem (jiddischen) Lied »S’Brent«́, das der 1942 im Krakauer Ghetto ermordete Dichter Mordechai Gebirtig (geb. 1877) 1938 nach einem Pogrom im polnischen Przytyk geschrieben hatte; das Lied wurde nach Beginn des Zweiten Weltkriegs zur Hymne des jüdischen Widerstands in den Ghettos: »Es brennt, Brüder (und Schwestern), es brennt! / Unsere Stadt brennt [...] und ihr, Brüder und Schwestern, / steht einfach da, mit verschränkten Armen.«

Gruens Blick richtet sich entsprechend über die rechtsradikalen und terroristischen Gewalttäter hinaus auf die große Gruppe unauffälliger, angepasster Bürger – das notwendige Umfeld des Rechtsradikalismus –, die zusehen und geschehen lassen und deren psychische und Persönlichkeitsstruktur Parallelen zu der der Gewalttäter aufweist: Gruen beruft sich u.a. auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahre 2000, nach der rund zwei Drittel aller Deutschen glauben, Deutschland brauche eine starke Hand. Man identifiziert sich mit Autorität, wertet Leid als Schwäche, distanziert sich von Mitgefühl.

Typisierend leitet Gruen rechtsradikale Biografien – gestützt auf verschiedene Studien – aus Erfahrungen des Opferseins, der Missachtung, des Schmerzes in Kindheit und Jugend ab; solche Erfahrungen dürfen nicht vor sich selbst zugegeben werden, das eigene leidende Selbst wird abgelehnt und im anderen, Fremden bekämpft. In der Gewalt gegen den anderen wird der beim rechten Gewalttäter selbst abgespaltene Teil wiedergefunden und bestraft (S. 39). Das, was man hätte werden können, aber nicht werden durfte – ein mitfühlender, auf sein Selbst vertrauender Mensch, jemand mit eigener Identität (S. 67) –, wird im anderen gefunden und dort erneut verworfen (S. 39) und gehasst. Aber Missachtung, Verletztwerden in der Kindheit, das nicht gespürt werden oder gegen das man sich nicht wehren durfte, mithin die Grundlagen der Entfremdung vom Eigenen, vom Menschlicheń (S. 16), die Macht der Eltern über die Kinder, dies alles gehört für Gruen zur gesellschaftlich insgesamt anerkannten Sozialisation; diese soll dafür sorgen, »daß die Motivation zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen tief in der menschlichen Seele verankert wird« (S. 18).

Bezogen auf die Persönlichkeitsstruktur sind, so Gruen, die Grenzen zwischen radikalen Gewalttätern und »Normalen« oft fließend – die Zahl der Konformisten, der »Unpolitischen«, oft als die »schweigende Mehrheit« bezeichnet, ist groß; ihr Schweigen stärkt den Rechtsradikalismus und bedroht die Demokratie (S. 95). Die heutige Politik mit dem »Glaube[n] an eine globalisierte Welt, in welcher der ökonomische Profit als einzige Wahrheit und weltanschauliche Wirklichkeit gilt« (S. 176), verlangt den sich anpassenden, angesichts von Autorität passiven Menschen; nicht eigene Werte und Ziele sind gefragt, sondern nur Fachkenntnisse. Aber dieses psychische Muster ist gefährlich und kann von terroristischen oder politischen Führern ausgenutzt werden.

In Gruens Buch gibt es manche Wiederholung, manchen Rückgriff auf seine früheren Bücher, seine Argumentation ist manchmal vereinfachend, holzschnittartig. Aber Thesen und Analysen sind ja nicht deshalb grundsätzlich falsch, weil man sie im Einzelfall weiter differenzieren kann. Die Analyse der »schweigenden Mehrheit«, der Aufweis fließender Grenzen und der Tatsache, dass eigentlich die konformistische, autoritätsverhaftete Persönlichkeitsstruktur normal, ja oft erwünscht ist, die bei einer offen gefährlichen Gruppe in die rechtsradikale Gewalt kippt, dies alles ist höchst bedenkenswert – ebenso wie der Hinweis, dass die einzig sichere Basis einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende, von Kindheit an erfahrene Humanität ist. Gruens Buch, 2002 erschienen, sind weiterhin viele Leser zu wünschen.