Rezension

Beeindruckend, bewegend - ganz ausgezeichneter Roman

Das innere Ausland - Thommie Bayer

Das innere Ausland
von Thommie Bayer

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn draußen der Herbststurm tobt, das Wetter ungemütlich ist und die Temperaturen gegen Null gehen, machen Sie es doch wie Andreas und Malin in Thommie Bayers (65) aktuellem Roman „Das innere Ausland“, erschienen im August beim Piper-Verlag. Feuern Sie abends den Kamin an, setzen Sie sich in Ihre Bücherecke und lesen Sie diesen so wunderbar unaufgeregten, berührenden, geradezu Herz erwärmenden Roman. Obwohl man nicht von einer spannungsreichen Handlung sprechen kann, fesselt dieser Roman durch seinen Sprachstil, seine Dialoge und oft mehr durch das beredte Schweigen seiner Protagonisten.

Die aufregendsten Kapitel ihres Lebens scheinen der 64-jährige Andreas und die über 40-jährige Malin schon hinter sich zu haben. Andreas Vollmann, der sowohl beruflich als Schlafwagenschaffner als auch in seinem Privatleben meistens mit sich allein war, bewohnt jetzt als Pensionär mit seiner ebenfalls unverheirateten jüngeren Schwester Nina ein Haus in Südfrankreich. Beide haben sich nicht nur ins wirkliche, sondern – wie der Titel des Romans es sagt – ins „innere Ausland“ zurückgezogen, mit ihrem bisherigen Leben abgeschlossen. Beide haben nur noch sich – Bruder und Schwester. Er wohnt im Vorder-, sie im Hinterhaus, die Küche nutzen beide gemeinsam. Beide leben in völliger Harmonie, nehmen auf einander Rücksicht, scheinen zufrieden, alles Notwendige scheint längst gesagt. Oder doch nicht? Denn für Andreas unerwartet stirbt Nina an Krebs. Sie hatte es ihrem Bruder verschwiegen. Wenig später platzt eine fremde Frau in Andreas' Einsamkeit. Es ist Malin, Ninas Tochter. Auch von ihr hatte Andreas nie zuvor gehört. Selbst Malin hatte erst nach dem Tod ihrer Mutter von deren Existenz erfahren. Malin zieht in Ninas Haushälfte ein, wo sie auf unbestimmte Zeit bleiben will. Mit der Zeit erkennt Andreas an seiner Nichte viele Charakterzüge und Eigenarten seiner verstorbenen Schwester. Malin offenbart ihm nach Tagen wachsenden Vertrauens die unbekannte Seite seiner Schwester, die sie selbst nur aus einem hinterlassenen Brief ihrer Mutter erfahren hat. Andreas, dessen Leben ohne seine Schwester sinnlos erscheint, und Malin, die sich gerade von ihrem Verlobten getrennt und ihre Pflegeeltern verlassen hat, erkennen eine zweite Chance, die das Schicksal ihnen beiden gewährt. Und sie ergreifen diese Chance.

Wir Leser begleiten Andreas zunächst in seiner Einsamkeit allein im Haus, sehen ihn kochen, Kaffee aufbrühen oder den Tisch decken. Selbst die Schilderung des Alltäglichen liest sich bei Thommie Bayern angenehm. Dann erscheint Malin, die zunächst Unruhe in diese Einsamkeit bringt, selbst aber Ruhe sucht. Auch hier werden wir Zeuge, wie sich beide erst auf Abstand beobachten, sich schließlich näherkommen und zuletzt erkennen müssen, dass sie die letzten Hinterbliebenen ihrer Familie sind. Sie lernen sich zu schätzen und ihre Eigenarten zu akzeptieren.

Thommie Bayer versteht es, mit einer der jeweiligen Stimmung angepassten Wortwahl uns an den Empfindungen seiner Protagonisten teilhaben, sogar mitfühlen zu lassen. „Das innere Ausland“ ist ein bewegender, nachdenklich stimmender, angenehm leiser Roman, der von vielen gelesen werden sollte. In der heutigen, oft übermäßig aufgeregten und von politischen Wirren überladenen Zeit, hat dieser ruhige und doch tiefgehende Roman eine fast therapeutische Wirkung.