Rezension

beeindruckend und nachhallend

Martha und die Ihren -

Martha und die Ihren
von Lukas Hartmann

Bewertet mit 5 Sternen

Lukas Hartmann, 1944 in Bern geboren, erzählt in diesem Roman die Geschichte seiner Großmutter Martha, beginnend Anfang des 20. Jahrhunderts und endend in der Nachkriegszeit nach dem 2. Weltkrieg.

Martha wächst in armen Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein Brunnenbauer, stirbt früh und läßt Frau und sechs Kinder mittellos zurück. Wie damals in der Schweiz üblich, werden Mutter und Kinder getrennt und die Kinder auf verschiedenen Bauernhöfe als sog. Verdingkinder verteilt. So kommt auch Martha mit erst acht Jahren zur Familie Bürgi. Dort muß sie sich um den behinderten 14jährigen Sohn der Familie kümmern. Völlig überfordert von dieser Aufgabe vertraut sie sich ihrem Dorfschullehrer an, woraufhin der behinderte Sohn ins Heim kommt. Dennoch bleibt Marthas Leben bei den Bürgis hart und entbehrungsreich.

Martha ist eine gute Schülerin, intelligent, lernt schnell. Ihr Lehrer setzt sich erneut für sie ein, so dass sie eine Anstellung in der Strickfabrik in Bern erhält. Dort arbeitet sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr und bis zu ihrer Heirat mit dem Schuhmacher Jakob.

Soweit die ersten Kapitel des Romans, die im Verhältnis zum Rest der Geschichte viel Raum einnehmen. In kurzen Sätzen und in sachlicher, beinahe distanziert wirkender Sprache erzählt der Autor von den Härten des Lebens, dem dieses zarte, kluge und doch so zähe Kind und die junge Frau Martha ausgesetzt ist. Die schnörkellose, fast emotionslose Sprache Hartmanns ist durchaus gewohnungsbedürftig, führt aber dazu, die raue Wirklichkeit umso intensiver nachvollziehen zu können. Als Leser empfindet man Sympathie für die Protagonistin.

Im weiteren Verlauf des Romans wird die Geschichte chronologisch geraffter erzählt. Die Jahre vergehen wie im Flug. Jakob der Schuhmacher stirbt jung, wie seinerzeit Marthas Vater, hinterläßt sie mit zwei Söhnen, Toni und Peter. Martha gelingt es, die Kinder bei sich zu behalten, sie müssen nicht "verdingt" werden. Ihre Söhne Toni und Peter wachsen jedoch wenig liebevoll auf. Alles wird Marthas Ziel, durch harte Arbeit und Gehorsam der Armut zu entkommen, untergeordnet. Die anfängliche Sympathie des Lesers für Martha schwindet. Relativ fassungslos ist man angesichts der Härte Marthas sich selbst und ihren Kindern gegenüber. Die Söhne heiraten ihrerseits. Toni arbeitet sich zum Büroangestellten hoch, die Enkel Bastian ( = der Autor Lukas Hartmann ) und Ferdi werden geboren.Toni aber opfert für sein berufliches Fortkommen seine Gesundheit und sein Familienleben, seine Ehe ist nicht glücklich. Der zweite Weltkrieg ist vorüber, Martha ist alt geworden und über die Zeit hart und verbittert.

Durch die ausführliche Darstellung der Kindheit Marthas als Verdingkind wird nun sehr deutlich, warum Martha und später auch ihr erster Sohn Toni zu den Menschen geworden sind, die sie am Ende ihres Lebens sind: verhärtet duch den ständigen Existenzkampf, kaum fähig, liebevolle Zuneigung zu zeigen. Anders ergeht es dem zweiten Sohn Marthas, Peter, dessen Ehe glücklich erscheint, und der mehr als Toni auf Distanz zu Martha geht. Im Verhältnis zwischen Martha und ihrem Sohn Toni scheint sich ein Muster durch diese Familie zu ziehen. Es gilt, der Armut zu entfliehen und um jeden Preis "etwas aus sich zu machen". Den Enkeln Bastian und Ferdi gelingt es dagegen, sich frei von den Prägungen ihrer Vorfahren zu entwickeln und der Leser schöpft Hoffnung, dass in der dritten Generation endlich ein selbstbestimmtes, glücklicheres Leben gelingen wird.

Die Geschichte von Martha und den Ihren wird trotz des reduzierten Sprachstils plastisch vermittelt, ohne die Protagonisten auf- oder abzuwerten. Sehr viel steht zwischen den Zeilen. Der Leser zieht unwillkürlich Parallelen zum eigenen Leben, zu den eigenen Großeltern, Eltern, Geschwistern und Kindern. Kann man den durch die Kindheit erfolgten Prägungen entkommen, warum gelingt dies dem einen Geschwisterkind, während ein anderes Kind den Prägungen so stark verhaftet bleibt ? Wie wirken sich äußere Umstände wie mangelnde staatliche Sozialfürsorge, harte durch Krieg und Hunger gekennzeichnete Zeiten auf die eigene Geschichte, die charakterliche Entwicklung aus ? Wie selbstbestimmt waren die eigenen Eltern/Großeltern, wie selbstbestimmt ist das eigene Leben ?

Lukas Hartmann gibt mit diesem Roman einen bemerkenswert mutigen Einblick in seine eigene Biographie und verarbeitet seine Geschichte zu großartiger Literatur. Zudem gewinnt der Leser mit der Schilderung des Schicksals des Verdingkindes Martha einen Eindruck vom unrühmlichen Kapitel dieses Teils der Schweizer Geschichte.

Der Roman hat mir sehr gefallen. Ich vergebe 5 Strene und eine große Leseempfehlung.